Vom Grazer Straflandesgericht wurde die Untersuchungshaft verhängt. Nach über zwei Jahren kam der Verdächtigte frei.

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Wien/Graz – Ein mutmaßliches Mitglied der radikalislamistischen Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) befindet sich auf freiem Fuß, obwohl gegen ihn eine Anklage der Staatsanwaltschaft Graz wegen terroristischer Straftaten – darunter Mord – vorliegt. Der Verdächtigte soll sich im Jahr 2012 in Syrien an Kampfhandlungen beteiligt und dabei auch Hinrichtungen vorgenommen haben. Das hat die "Kronen Zeitung" aufgedeckt.

Enthaftet wurde Turpal I. (33), weil die zulässige Maximaldauer der U-Haft überschritten war. Diese darf laut Strafprozessordnung (StPO) bis zum Beginn der Hauptverhandlung zwei Jahre nicht übersteigen, selbst wenn der Betroffene eines Kapitalverbrechens verdächtigt wird, das mit einer mehr als fünfjährigen Freiheitsstrafe bedroht ist (§178 Abs 1 2. Fall StPO). Nachdem diese Grenze deutlich überschritten war, war der Mann aus formalen Gründen zwingend zu enthaften, um dem Gesetz genüge zu tun. Seit 5. Mai befindet sich der 33-Jährige auf freiem Fuß.

Justizministerin Alma Zadic (Grüne) gab sich in der Sache im Pressefoyer nach dem Ministerrat äußerst zurückhaltend. Das Prozedere innerhalb der Gerichtsbarkeit werde intern geprüft. Dem wolle sie nicht vorgreifen. Wiederholt betonte die Ressortchefin lieber, was für großartige Arbeit Staatsanwaltschaft und Polizei geleistet hätten, des Täters überhaupt habhaft zu werden. Dass es in komplexen Angelegenheiten länger dauern könne, da Fakten zusammengetragen werden müssten, ist für Zadic normal.

FPÖ-Obmann Norbert Hofer und der blaue Justizsprecher Harald Stefan orteten in einer Aussendung einen "unfassbaren Justizskandal". Die Bundesregierung habe aus dem islamistischen Anschlag von Wien im November 2020 offenbar nichts gelernt: "Es darf nicht passieren, dass ein mutmaßlicher Terrorist und grausamer Enthaupter entlassen wird, nur weil die Justiz offenbar zu wenig Personal und Geld hat, um Fristen einzuhalten."

Verhaftung in Belarus

Der Tschetschene, der 2004 als Flüchtling nach Österreich gekommen war, soll vom radikalislamischen "Hassprediger" Mirsad O. alias Ebu Tejma für den IS rekrutiert worden sein. Der Kampfsportler ging schließlich nach Syrien, wo er sich laut Staatsanwaltschaft einer Kampftruppe der Terrormiliz angeschlossen haben soll. Jahre später wurde über einen Zeugen, der auch Mirsad O. belastet hatte, was mit dazu führte, dass der Prediger in Graz rechtskräftig zu 20 Jahren Haft verurteilt werden konnte, bekannt, dass Turpal I. in Syrien Morde begangen haben soll. Der Belastungszeuge wurde in ein spezielles Zeugenschutzprogramm aufgenommen, Turpal I., der zu diesem Zeitpunkt in Österreich nicht mehr greifbar war, per internationalem Haftbefehl gesucht.

Im November 2018 wurde er in Belarus gefasst. Er kam in Auslieferungshaft, im darauf folgenden Frühjahr übergaben ihn die Behörden in Belarus der österreichischen Justiz. Am 26. April 2019 wurde über den Terrorverdächtigen vom Landesgericht Graz die U-Haft verhängt.

Besuch beim Familiengrab

Ein von der Staatsanwaltschaft Graz geführtes, umfangreiches Ermittlungsverfahren, das sich nicht nur gegen Turpal I., sondern auch gegen dessen Eltern – ihnen wird Terrorismus-Finanzierung angelastet -, Mirsad O. und weitere Verdächtige richtete, zog sich allerdings in die Länge. Die Anklage wurde erst am 11. November 2020 – da saß Turpal I. bereits eineinhalb Jahre in U-Haft – eingebracht.

Wie Florian Kreiner, der Verteidiger des Tschetschenen, im Gespräch mit der APA darlegte, habe er bei der Grazer Anklagebehörde mittels "mehrfacher Urgenz" auf die zeitliche Begrenzung der U-Haft aufmerksam gemacht. Darauf habe es geheißen, es sei "noch nicht klar, ob angeklagt wird", sagte Kreiner Mittwochmittag.

Konkret auf den Inhalt der Anklage – inkriminiert sind unter anderem terroristische und kriminelle Vereinigung, Mord in Form einer terroristischen Straftat und Ausbildung für terroristische Zwecke – gegen den 33-Jährigen bezogen, hielt Kreiner fest: "Er hat sich kurzfristig in Syrien aufgehalten, war aber an terroristischen Straftaten nicht beteiligt." Turpal I. habe die Grabstelle seines in Syrien gefallenen Schwagers besuchen wollen.

Streit um Zuständigkeit

Nach dem Vorliegen der 200 Seiten starken Anklageschrift war ein Konflikt über das für die Hauptverhandlung zuständige Gericht ausgebrochen, mit dem das Oberlandesgericht (OLG) Graz und in weiterer Folge der Oberste Gerichtshof (OGH) befasst wurden. OGH-Sprecherin Alexandra Michel-Kwapinski wies Vorwürfe zurück, man habe sich für die zu treffende Entscheidung zu lange Zeit gelassen. Der OGH habe den Akt am 15. Februar erhalten, zwei Tage später zur Stellungnahme der Generalprokuratur übermittelt, diese samt dem Akt am 2. März retour bekommen und am 25. März die Zuständigkeit geklärt. "Es hat keine Verzögerung gegeben", betonte Michel-Kwapinski. Das Wiener Landesgericht für Strafsachen sei deshalb für die Hauptverhandlung zuständig, "weil einige von der Anklage umfasste Ausführungshandlungen im Sprengel des OLG Wien stattgefunden haben sollen".

Wann die Hauptverhandlung in Wien stattfinden wird, ist offen. Offiziellen Termin gibt es noch keinen. Das Justizministerium betonte auf APA-Anfrage, das Wiener Landesamt für Verfassungssschutz und Terrorismusbekämpfung (LVT) sei vor der Enthaftung von Turpal I. informiert worden, "um alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen". Mirsad O. befinde sich selbstverständlich weiter im Gefängnis. (APA, 12.5.2021)