Nach dem nächtlichen Sitzungs-Showdown und der eilig anberaumten Vorstandsbefragung lichtete sich Ende April der Pulverdampf des schlecht kaschierten Kampfes zwischen den Ministerpräsidenten von NRW und Bayern um die Kanzlerkandidatur der Union. Als dann weißer Rauch über dem Konrad-Adenauer-Haus aufstieg, wurde aus Befürchtung Gewissheit. Der Kandidat von CDU/CSU für die Bundestagswahl 2021 heißt Armin Laschet. Zähneknirschend und mit Spitzen gegen den gerupften Sieger nicht sparend, räumte der Vorzeigebayer Markus Söder seine Niederlage ein.

Die Grünen und der Sieger der Herzen

Im Kontrast dazu, haben die Grünen nur einen Tag vorher auf – zumindest öffentlich – hypergeschmeidige, manche würden wohl sagen professionelle Weise, Annalena Baerbock zu ihrer Kanzlerkandidatin gekürt und für die gefühlte Reibungslosigkeit dieses Vorganges von aufgeriebenen und übernächtigten Unionspolitikern viel Neid und Bewunderung geerntet. Diese Vorgänge dokumentieren zweierlei Dinge: Zum einen, dass sich Demokratie-düngende Praktiken wie politische Auseinandersetzung, Debatte und offener, bisweilen auch harter Schlagabtausch nach fast 16 Jahren Angela Merkel eher irritieren und peinlich berühren, als dass sie willkommene Mittel demokratischer Willensbildung sind. Zum anderen sehen wir die Evolution einer einst revolutionär angehauchten, aus Prinzip streitlustigen, Graswurzel- und Protestpartei hin zu einem durchoptimiertem Polit-Start-Up mit beinahe türkis anmutender Message-Control-Culture und dem hollistischen Meta-Auftrag "Klima" als Markenkern und trojanisches Pferd für alles Weitere.

Persönlich bin ich kein Anhänger des bayerischen Ministerpräsidenten, dieses bezeichnenderweise auch aus den eigenen Reihen genannten Siegers der Herzen. Dieser Markus Söder mit seiner hemdsärmeligen Metzgermine und der Frisur, die immer an "zwanzig Jahre zu spät auf der Loveparade" erinnert, ist – oder war mir – eigentlich herzlich egal. Mittlerweile tun derlei geschmäcklerische Spitzfindigkeiten leider nichts mehr zur Sache, denn: Söder hätte als Herzbube der Union seinen Parteien wieder etwas von ihrem zur Unkenntlichkeit abgeschliffenen und bitter benötigten, politischen Profils zurückgegeben – einem konservativen Profil nämlich, dass der Partei und dem Land nach fast 16 langen Jahren der adaptiv-pragmatischen, post-ideologischen und selbstzentrierten Machterhaltungspolitik Angela Merkels, beinahe vollständig abhandengekommen ist. Die haushohe Überlegenheit Söders in den Umfragen zur Zeit der Kandidatenwahl und das Gären und Schwelen an der CDU-Basis ob des Ausgangs der Kandidatenfrage belegen dies überdeutlich.

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Laschet soll Angela Merkel als Kanzler beerben.
Foto: reuters

Söder: Was hätte sein können

Mit Söder als Kanzlerkandidat wäre die Union zumindest gefühlt wieder ein Angebot für all jene, die das moralisierende Lifestyle-Korrektorat der Grünen genauso ablehnen, wie den inzwischen schamlos zur Schau gestellten Steampunk-Faschismus einer AFD, die sich im freien Radikalisierungs-Fall befindet. Eine Union unter Söder wäre wieder ein Angebot für all jene, die finden, dass Zuwanderung gesteuert gehört, und zwar nicht zuletzt von dem Land, in das zugewandert werden will. Diese Union wäre auch wieder ein Angebot für all jene, die Asyl nicht ständig mit Migration verwechseln (wollen) und ein Angebot für jene, die gerne jene tatsächlich verfolgten und bedrohten Menschen willkommen heißen möchten, die in unsere demokratische Gesellschaft flüchten, weil es sich dort eventuell besser leben lässt als in autokratischen und/oder religiösen Diktaturen.

Diese Union wäre aber auch ein Angebot für all jene, die finden, dass Geflüchtete, die durch ihr Handeln beweisen, dass sie eine aufgeklärte Gesellschaft, in der beispielsweise Frauen und Männer vor dem Gesetz gleich sind und kein Gott über diesem Gesetz steht, ablehnen, aus dieser Gesellschaft auch wieder entfernt gehören. Diese Union wäre auch ein Angebot an jene, die finden, dass nicht für jedes haarsträubende Missmanagement und Korruptionsgewölle in Drittweltstaaten der Westen, am besten gleich wortgewaltig als "Wir" denunziert, verantwortlich ist. Diese Union wäre auch ein Angebot für jene, die finden, dass nicht für jeden von der US-amerikanischen Polizei tragischerweise ermordeten, schwarzen US-Bürger, jeder Mensch käsiger Pigmentierung weltweit eine diffuse Mitschuld trägt. Diese Union wäre auch ein Angebot für all jene, die einen (Triggerwarnung!) entspannten und inklusiven Patriotismus leben möchten. Diese Union wäre auch ein Angebot an jene, die dafür sind, die deutsche Sprache gendern zu können, aber dagegen sind, es unter Androhung von Repressionen wie einer Kündigung (gängige Praxis etwa für Mitarbeiter an vielen Universitäten in Deutschland und Österreich) auch zu müssen.

Diese Union wäre nicht zuletzt ein Angebot für all jene, die keine Lust haben, sich an einer wachsenden Zahl auf dem identitätspolitischen Marktplatz aufgestellter Pranger beispielsweise ihres toxischen Geschlechtes, ihrer heteronormativen Orientierung oder ihrer kritischen Hautfarbe wegen abqualifizieren zu lassen. Kurz: Eine Union unter einem Kanzlerkandidaten Söder wäre ein symbolisches Angebot für eine überwältigende, aber in den digitalen Meinungsverstärkern unterrepräsentierte, verunsicherte und schweigende Mehrheit – eine Mehrheit, die derzeit politisch obdachlos ist und deren Irrlichtern von proto-faschistischen Wölfen im restbürgerlichen Schafspelz nur allzu gern gesehen wird

Macht um ihrer selbst willen?

Der Kanzlerkandidat Armin Laschet steht nach eigener Aussage für das Zusammenführen, für Ausgleich und Versöhnung und damit irgendwie für alles und nichts. Am ehesten steht er noch für seine durchaus Respekt gebietende Resilienz und sein taktisches Geschick in eigener Sache, aber wofür steht diese Sache dann? Sie steht, und das hat er bereits beim Kampf um den CDU-Vorsitz eindrucksvoll bewiesen, vor allem dafür, wie man nach allen Regeln der Spitzenpolitikerkunst an die Macht kommt. Wofür er sie, wenn er sie dann einmal innehat, konkret nutzen möchte, bleibt hingegen offen. Damit steht er in der Traditionslinie jener reagierenden, friktionsvermeidenden, post-ideologischen Schule Merkels, deren politische Vision, abgesehen von ihrer Person im Bundeskanzleramt, auch gegen Ende ihrer Kanzlerschaft wage bleibt. Das Laschet nun zweifelhafte Gehilfen, wie der ehemalige Verfassungsschutzpräsident und AFD-Versteher Hans Georg Maaßen oder die ewige 13. Fee der Union, Friedrich Merz, zur Seite gestellt werden, ist kein gutes Omen für den frischgebackenen Kanzlerkandidaten und seine Union. Vielmehr offenbart dies auf peinliche Weise, wie es um seinen wahren Rückhalt in weiten Teilen der Partei bestellt ist.

Die politische Landschaft in Deutschland wird mit diesem indifferenten Kandidaten der letzten verbleibenden Volkspartei weiter aus dem Gleichgewicht geraten. Die CDU könnte so schneller als sie "zweite Reihe" buchstabieren kann, in jener verschwinden und damit dasselbe Schicksal erleiden, dass der deutschen Sozialdemokratie zu Teil wurde, nachdem ihr post-proletarischer Aufsteigerkanzler Schröder in Brioni-Anzügen den sozialen Wesenskern – heute wohl eher Markenkern – seiner Partei unter dem Vorwand der Alternativlosigkeit auf dem neoliberalen Basar verscherbelt hat. Apropos: Olaf Scholz – Vizekanzler und aktueller Kanzlerkandidat der SPD gilt bei dieser Wahl von Anfang an als krasser Außenseiter, auf den nicht einmal mehr der Begriff Herausforderer anwendbar ist. Martin Schulz konnte nach seiner Wahl als Merkels Kontrahent ums Kanzleramt vor vier Jahren wenigstens noch einen zwar kurzen, aber starken Hype für sich verbuchen.

In Spaltung vereint

Das Ende der Mitte und ihrer Möglichkeit sich nicht zwischen Extremen entscheiden zu müssen, ist damit so gut wie besiegelt. Alles deutet derzeit auf einen HBO-artigen Showdown zwischen Hell und Dunkel, Gut und Böse, Menschen und White Walkers, also Grünen und ADF, hin – zweier Kontrahenten, die sich auf den zweiten Blick ähnlicher sein könnten, als ihnen lieb ist. Zweier Kontrahenten nämlich, die vor allem das Spaltende vereint. Die Grünen werden mit ihrem identitätspolitischen Paternalismus weiter Lifestylepolitik für immer schriller auftretende und sich immer stärker viktimisierende Minderheiten im Land machen. Jene in ihrem alten (Anthroposophie) und neuen (Moralbürgerlichkeit) Elitismus liegende Ablehnung der Arbeiterklasse (oder dem was davon übrig ist) und deren Lebenswelten wird dabei noch krasser in Erscheinung treten. Sie interessieren sich kaum für den Stundenlohn des Foodora-Zustellers, sondern ob das in seinem Buckelwürfel auch Bio ist. Auch werden die Grünen im besten Fall noch aus Naivität weiter mit zwielichtigen, verdeckt oder offen islamistischen Vereinen, Organisationen und Aktivist*innen herumdialogisieren, die, wäre die AFD etwa eine türkische oder iranische Partei, genau von jener gesteuert werden würde. Vereine, Organisationen und Aktivist*innen denen die Kreide schon zu den Ohren herauskommt und die man besser nicht nach ihren Positionen zu Geschlechtergleichstellung und LGBTQ-Menschen befragt; die aber zum Himmel schreienden Unfug behaupten, dass die Verschleierung (natürlich auch schon im Kindergarten) etwa ein antikapitalistischer, feministischer Akt emanzipatorischer Selbstermächtigung ist. Danke Judith Butler, für einen weiteren, spannenden Ansatz und viel Erfolg damit vor dem Schariagericht bei ihrem Lebenswandel.

Die AFD wiederum schürt nostalgische Sehnsüchte in ein diffuses, normales Gestern und kanalisiert den Frust ob dessen Unerreichbarkeit in einer globalisierten Welt in weißglühende Wut auf alles Fremde. Dabei ist die Partei in ihrer jetzigen Eskalationsstufe sich nicht mehr zu schade, haarsträubende, abgefeimte, uralte und so gut wie immer antisemitische Verschwörungserzählungen zu bemühen, die nun durch die Corona-Pandemie noch deutlicher an die Oberfläche geschwemmt wurden. All dies hat schon lange nichts mehr mit der ehemaligen Professoren Partei des Hamburger Volkswirtschaftsprofessors Bernd Lucke zu tun, welche der EU zu Zeiten der Finanzkrise von 2008/2009 mal ein paar kritische Fragen in Sachen Fiskalunion stellen wollte. Diese AFD hat ihren einstigen Gründer samt dessen eher oldschool-FDP-artigen Entourage vor etlichen Jahren schon aus dem linken Fenster geworfen und ist heute in weiten Teilen offen neofaschistisch unterwegs.

Diese schon zugespitzte Polarisierung der Gesellschaft in Deutschland wird weiter eskalieren, wenn die Union, als letzte verbliebene Volkspartei, nicht schleunigst zu ihrer wirklichen Mitte zurückfindet; einer Mitte, die tatsächlich nicht ganz so weit im linksliberalen Spektrum liegt wie jene, in die Angela Merkel sie in eigener Sache hineintaktiert hat und ohne die es die Bad Bank AFD in ihrer gegenwärtigen Form als politischen Wutraum besorgter Bürger wahrscheinlich nicht gäbe. Laschet, der gewiefte Stratege und Ministerpräsident in Gestalt eines Spielwarenladenbesitzers, möchte vor allem eines: gefallen. Und zwar nicht zuletzt seinem eigenen Machtanspruch. Er möchte Zusammenhalt in CDU/CSU und bald als Kanzler in Deutschland beschwören, möchte versöhnen statt spalten und möchte damit etwas, das genau seine Personalie verhindert. Der bereits unter Merkel überstrapazierte Burgfrieden zwischen Unionsführung und Basis wird unter ihm noch weiter quietschen. Man darf bezweifeln, dass es Laschet gelingen kann, diese innerparteilichen Fliehkräfte genauso geschickt zu bändigen, wie es der Dauerkanzlerin Merkel ("Sie kennen mich") gelang. Für die bitter nötige ideologische Re-Zentrierung der CDU/CSU und die damit einhergehende Beruhigung der übersäuerten und dunkel unterströmten Politlandschaft Deutschlands sehe ich, mit einem Kanzlerkandidaten Laschet, nun ja, eher schwarz. (Alexander Keppel, 17.5.2021)