Mit der Kranzniederlegung am Grab von Napoléon Bonaparte zu dessen 200. Todestag hat sich der französische Präsident Emmanuel Macron noch weiter in die Auseinandersetzung rund um den eskalierenden Kulturkampf im Land eingeschaltet, sagt die Wirtschaftswissenschafterin Brigitte Granville im Gastkommentar.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron vor dem Grab Napoléons im Invalidendom. Er warnte davor, Napoléon nur mit heutigen Maßstäben zu beurteilen und damit "die Vergangenheit auszulöschen".
Foto: EPA / Sarah Meysonnier

Napoléons Vermächtnis ist seit langem umstritten. Seine Bewunderer loben Napoléons Rolle bei der Schaffung des modernen französischen Staates; seine Gegner verurteilen ihn als Kolonisator, der Millionen Menschen versklavte. Besonders brisant wurde dieses Thema nach der Veröffentlichung eines von 20 pensionierten Generälen unterzeichneten offenen Briefes im letzten Monat.

Klagen über "Verfall"

Nach Meinung der Generäle befindet sich Frankreich in einem Zustand des "Verfalls", und das sei auf mehrere "tödliche Gefahren" zurückzuführen, etwa den "Islamismus und die Horden der Banlieues" (der armen, von Zugewanderten dominierten Vorstädte). Eine weitere derartige Gefahr stelle die antirassistische Bewegung dar, die "unser Land, seine Kultur und Traditionen" verachtet.

"Nichts anderes als die Drohung mit einem faschistischen Putsch." Die Onlinezeitung "Mediapart" über den Brief der Generäle.

Düstere Vorhersagen über den bevorstehenden Zerfall Frankreichs sind nicht neu. In seinem 2015 erschienenen Roman Unterwerfung malte sich Autor Michel Houellebecq aus, wie in Frankreich nach der knappen Wahlniederlage einer aufrührerischen weiß-nationalistischen Bewegung eine von der alten säkularen Linken unterstützte islamische Regierung gebildet wird.

Doch das französische Establishment tat derartige Narrative immer rasch ab. "Frankreich", erklärte der damalige Premierminister Manuel Valls nach der Veröffentlichung des Romans, "ist nicht Houellebecq … es ist nicht Intoleranz, Hass und Angst." In ähnlicher Weise hat auch der gegenwärtige französische Premierminister Jean Castex den Brief der Generäle "auf das Schärfste" verurteilt.

Sicht auf Banlieues

Doch ein Großteil des Landes ist anderer Meinung. Tausende aktive und pensionierte Soldatinnen und Soldaten setzen ihre Namen unter den Brief, und in einer für den (staatlichen Nachrichtensender) LCI durchgeführten Umfrage unterstützte eine deutliche Mehrheit der Befragten (58 Prozent) die Tirade der Generäle. Die meiste Zustimmung (86 Prozent) erhielt eine Behauptung in dem Brief, wonach es "keine Stadt oder Wohngegend geben darf, wo die Gesetze der Republik nicht durchgesetzt werden".

Darin spiegelt sich die öffentliche Wahrnehmung wider, dass die Polizei einen Bogen um die Banlieues macht, wo die Gewalt in regelmäßigen Abständen aufflammt. Im November 2005 sah sich der damalige Präsident Jacques Chirac veranlasst, nach drei Wochen nächtlicher Unruhen – ausgelöst durch den Unfalltod zweier schwarzer Jugendlicher auf der Flucht vor der Polizei – den Ausnahmezustand auszurufen. Mittlerweile glauben viele, dass den Banlieues ein weiterer Gewaltausbruch bevorsteht und dass die Behörden nicht annähernd genug unternehmen, um ihn zu verhindern.

Kritik an antirassistischen Kräften

Freilich ist das nicht das einzige Problem der Menschen in Frankreich mit der Polizei. Die Black-Lives-Matter-Demonstration letztes Jahr im Zentrum von Paris zeigte, dass die von den Generälen verunglimpften "antirassistischen Kräfte" überzeugt sind, dass Zugewanderte und People of Color überproportional häufig von Polizeibrutalität betroffen sind. Bei diesen antirassistischen Kräften handelt es sich um keine unbedeutende Gruppe, denn trotz eines Versammlungsverbots für Gruppen von zehn oder mehr Personen nahmen zehntausende Protestierende teil.

Auf der anderen Seite der Barrikaden könnte jedoch der Eindruck entstehen, als ob Zugewanderte und People of Color die Opferrolle irgendwie monopolisieren würden. Schließlich blickt die französische Polizei auf eine lange Geschichte der Brutalität gegen weiße Protestierende zurück – darunter insbesondere die Unruhen von Mai 1968. In jüngerer Vergangenheit haben die Proteste der Gelbwesten – die in dem kurzen offenen Brief prominent erwähnt werden – etwa ein Dutzend Tote gefordert.

Repression gegen Gelbwesten

Tatsächlich bieten die Gelbwesten den Kritikern der französischen Black-Lives-Matter-Bewegung ein besonders überzeugendes Gegenargument. Bei den Protestierenden handelte es sich nämlich größtenteils um weiße Erwerbsarme, oft aus Kleinstädten und ländlichen Gebieten Frankreichs. Unter dem Druck immer höherer Steuern und immer schlechterer öffentlicher Leistungen gingen sie 2018 auf die Straße, um Veränderungen zu fordern – und trafen dort auf Repression.

Missstände, die beide Gruppen betreffen – niedriger Lebensstandard, hohe Arbeitslosigkeit und Polizeigewalt – könnten eine gemeinsame Basis bilden, da sie alle Ausdruck des Versagens des französischen Staates sind. Aber die gängigen Narrative, in denen die "anderen" dämonisiert werden, bedeuten, dass Zustände des Mangels eher zu weiteren Ressentiments und Spaltungen führen.

Ressentiments allerorts

So betrachten beispielsweise viele Gelbwesten die Jugendlichen aus Zuwandererkreisen als verwöhnte Sozialschmarotzer, die ungestraft das Gesetz brechen. Gleichzeitig entwickeln die – auch räumlich – am Rande der Gesellschaft Stehenden, denen es an Möglichkeiten fehlt, den schwierigen, oft gewalttätigen Bedingungen zu entkommen, möglicherweise zunehmend Ressentiments gegenüber ihrer Gemeinschaft und ihrem Land.

Ein derartiges Umfeld hat das Potenzial, zu einer Brutstätte des fanatischen Islamismus zu werden. Man kann sich keinen stärkeren Zündstoff für einen Kulturkampf vorstellen als die allzu häufigen, von "Allahu akbar"-Rufen begleiteten tödlichen Anschläge, wie sie kürzlich gegen Gläubige in einer katholischen Kirche in Nizza und auf eine Polizistin in einer Stadt südwestlich von Paris verübt wurden (um nur zwei Beispiele zu nennen).

Polarisierende Stichwahl

Nur wenige Menschen in Frankreich sind mit der politischen Führung des Landes zufrieden, weshalb mehrere Präsidenten nacheinander nicht wiedergewählt wurden. Um dieses Muster im nächsten Jahr zu durchbrechen, wird Macron wahrscheinlich eine weitere polarisierende Stichwahl gegen die rechtsextreme Führerin des Rassemblement National, Marine Le Pen, überstehen müssen, die ihre Unterstützung für den Brief der Generäle zum Ausdruck brachte, obwohl der Rechtsruck in der öffentlichen Meinung zur Kandidatur eines weiteren Herausforderers oder einer Herausforderin führen könnte.

Um seine Chancen in diesem Rennen um das Präsidentenamt zu verbessern, wird sich Macron vom Rest des Feldes abheben müssen, indem er das unverkennbar "universalistische" Ideal französischer Staatsbürgerschaft bekräftigt – das im Gegensatz zum Multikulturalismus über ethnische Herkunft und religiösen Glauben hinausgeht.

Versöhnliche Gesten

Auf praktischer Ebene wäre Macron gut beraten, die massiven öffentlichen Ausgaben des Landes von der Bürokratie in Richtung der grundlegendsten Aufgaben des Staates umzuleiten – angefangen beim Strafrechtssystem. Frankreichs Polizei ist alles andere als perfekt, aber man kann keine Verbesserung erwarten, wenn sie nicht über ausreichende Ressourcen verfügt, an denen es heute in beklagenswerter Weise mangelt.

Macron sollte auch konkrete versöhnliche Gesten gegenüber beiden Seiten des Kulturkampfes setzen. So könnte beispielsweise ein Bekenntnis zu Null-Toleranz-Polizeiarbeit in den Banlieues die eine Seite besänftigen, während Fortschritte in Richtung Entkriminalisierung von Drogen zu einer Beruhigung der anderen führen könnten, weil damit die potenziellen Gefahren verstärkter polizeilicher Überwachung gemildert werden würden.

Mit seiner Rede zum Todestag von Napoléon stellt sich Macron offenbar allen Aspekten des umstrittenen Vermächtnisses des Kaisers. Wie er diesen charakteristischen Spagat schaffen wird, könnte viel über seine Fähigkeit offenbaren, den schwelenden Kulturkrieg in Frankreich vor einer Explosion zu bewahren. (Brigitte Granville, Übersetzung: Helga Klinger-Groier, Copyright: Project Syndicate, 13.5.2021)