Wie weit ist es gekommen in dieser Republik? Ein amtierender Bundeskanzler und ÖVP-Chef erklärt Armin Wolf vor laufender Kamera, wie sehr er so ein "freundliches Gespräch wie bei Ihnen" im Untersuchungsausschuss vermisst hat und die Befragung durch eine "objektive Person so wie Sie". Eine Liebeserklärung beinah' an den herausforderndsten Interviewer des ORF von einem Politiker, der ein großes Selbst zur wichtigsten Darstellungsform erhoben hat.

Das gesamte Interview mit Bundeskanzler Sebastian Kurz.
ORF

"Wir leben in Österreich"

Keine Sorge, die "ZiB 2" und auch Wolf sind noch, wie man sie kennt, alles also wie bisher, auch wenn ein Bundeskanzler noch nicht oft von der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft als Beschuldigter geführt wurde wegen des Verdachts der Falschaussage vor einem Untersuchungsausschuss.

Und auch wenn Sebastian Kurz mit einer Anklage rechnet, aber keinesfalls mit einer Verurteilung, denn: "Kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass ein Gericht so entscheidet. Wir leben in Österreich. Ich gehe doch davon aus, dass ich die Möglichkeit haben werde, vor Gericht auf diese Vorwürfe einzugehen. Und ich kann zu jedem Vorwurf gerne Stellung nehmen und so wie Ihnen heute erklären, wenn man nicht Zitate aus dem Zusammenhang reißt oder sie bewusst verkürzt, dass sich die Dinge sehr leicht aufklären lassen." (Zitat bewusst nicht gekürzt.)

Handkante.
Screenshot ORFTVthek

Hoch die Hände!

Es ist alles zumindest so herausfordernd wie bisher in der "ZiB 2", sagen die Hände von Sebastian Kurz, vor allem die rechte, die er am Mittwochabend besonders hoch hält und gerne in Richtung Kamera und damit auch Wolf kantet, um ein Gegenargument zu unterstreichen. Oder, auf ungewöhnlich deutlicher Kopfhöhe, Daumen und Zeigefinger aufeinanderlegt, um Feinheiten herauszuarbeiten, die die Richtigkeit seine Aussagen zeigen und den Vorwurf der Falschaussage im Untersuchungsausschuss widerlegen sollen. Die sonst beliebte offenen Arme auf Brusthöhe machen sich eher rar.

Feinheiten.
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Wolf fragt auch weiterhin sehr nachdrücklich und nach, und Sebastian Kurz "muss bei allem Respekt" nicht selten widersprechen. "Wenn Sie mir erlauben, möchte ich darauf hinweisen, dass auch Sie eine meiner Aussagen nur zur Hälfe zitiert haben und so einen ganz anderen Eindruck erweckt haben." Oder: "Aber Herr Wolf, darf ich Ihnen widersprechen." Oder: "Das kann ihnen gefallen oder nicht, die Entscheidung liegt beim Finanzminister."

Die mediale Logik

Warum antwortet Kurz nicht, ob er zurücktritt, sollte er verurteilt werden? Die Erklärung unterstreicht auch den Fokus des Kanzlers – auf die Schlagzeile (damit ist er in der Politik natürlich nicht allein): "Nein, Herr Wolf, ich kenne nur die mediale Logik. Wenn Sie von mir die erwünschte Antwort bekommen, dann macht morgen ORF.at damit auf: Der Bundeskanzler tritt zurück, wenn er verurteilt wird." Nun muss die – ohnehin aufregendere – Schlagzeile lauten: Der Bundeskanzler lässt offen, ob er zurücktritt, wenn er verurteilt wird.

So war's.
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Und Wolf erinnert gründlich und beharrlich mit einer Einspielung von Kurz-Förderer Michael Spindelegger, der als Vizekanzler und ÖVP-Chef sagte, bezogen nicht nur für den damaligen Kanzler Werner Faymann (SPÖ), sondern auch dezidiert auf ÖVP-Politiker. "Das kann nicht sein, dass ein Spitzenrepräsentant der Republik, gegen den eine Anklage vor Gericht führt, dieses Amt weiter innehat." Er zitiert ÖVP-Ethikratsvorsitzende Waltraud Klasnics Zitat, wonach moralische Verantwortung mit der Anklage einsetze – "da erwarte ich, dass man alle politischen Aufgaben ruhend stellt".

"Kurz muss weg"

Da kommt das – Kurz – wichtigste Argument: "Und Herr Wolf, ich bitte Sie zu respektieren, dass ich zweimal mit meinem Team von der Bevölkerung gewählt wurde, und ich war mit vielen in der Volkspartei in Kontakt, mit Landeshauptleuten, die mir alle den Rücken gestärkt haben und gesagt haben: Man darf sich das nicht gefallen lassen. Und das werde ich auch nicht tun."

Ich bitte Sie zu respektieren!
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Sie sind gegen ihn, weil er für euch ist? Damit hat ein anderer geworben. "Kurz muss weg", so erklärt der amtierende Kanzler "das politische Ziel". So versammelt man die Fans hinter sich.

Inflationäre Ermittlungen

Die ÖVP sammelt derzeit Ermittlungen vom Kanzler und seinem Kabinettchef abwärts, erinnert Wolf zum Abschluss. "Ob die Ermittlungen inflationär laufen, müssen andere beurteilen", sagt Kurz, aber: "In allen Vorwürfen" habe sich "überhaupt nirgends irgendwie herausgestellt, dass an den Vorwürfen irgend etwas dran ist." "Das ist noch nicht entschieden", wird Wolf seiner Rolle als "objektive Person" gerecht, wie sie der Kanzler schätzt.

"So ein freundliches Gespräch."
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Im Gegensatz zum Untersuchungsausschuss ist das Interview in der "ZiB 2" laut Kurz ja "so ein freundliches Gespräch, das zehn Minuten dauert, wo man wohlüberlegt antworten kann". Mittwochabend werden es 23.54 Minuten, und ihrem Ende zu werden die Worte vielleicht besonders gut abgewogen: "Ich glaube, dass sich in der Regel diese Vorwürfe immer als falsch herausstellen werden", sagt er zu den Ermittlungen gegen eine Reihe anderer in seiner ÖVP. Und zu denen gegen sich selbst: "Ich habe, was diese Frage betrifft, ein absolut reines Gewissen. Insofern bin ich, was das Thema betrifft, mehr als nur entspannt."

Wenn sich er und Wolf "in ein paar Jahren" wieder zusammensetzen und besprechen, welcher aus der Riege der ÖVP-Politiker tatsächlich verurteilt wurde und wem man "einen falschen Vorwurf gemacht" hat: "Ich traue mich zu behaupten, dass es zu Null ausgehen wird." Gemeint wohl: Es werde keine Verurteilungen geben.

"Vor Gericht oder bei der Staatsanwaltschaft"

Die Kanzlerwürdigung als "objektive Person, so wie Sie" stammt aus Kurz' Kritik an "Untergriffen und Unterstellungen" in der Befragungssituation vor dem U-Ausschuss: "Vor Gericht oder bei der Staatsanwaltschaft ist es so, dass eine objektive Person, so wie Sie, in aller Ruhe, in aller Sachlichkeit Fragen stellt, auf die man Antworten kann." Darauf kann sich der Kanzler nun als Nächstes einstellen. (fid, 13.5.2021)