Ein Plädoyer gegen das Hamsterrad und die Gier nach materiellen Dingen: Die raumgreifende Live-Installation "Here" in der Wiener Secession eröffnet die Wiener Festwochen.

Peter Mochi

Man kann Stress auch Dynamik nennen, Billigjobs als Arbeitsplätze bezeichnen oder Atommeiler als klimafreundliche Alternativen zu Kohlekraftwerken. Aber bekanntlich liefert die Sprache lediglich Etiketten für eine Wirklichkeit, in der gilt: Aus Tschernobyl wurde Fukushima, Ausbeutung ist Ausbeutung, und übersteigerte Dynamik wird zum Stress. Bis in die Nullerjahre hatte die auf Zypern geborene, griechisch-amerikanische Choreografin und Künstlerin Maria Hassabi (48) auch nichts gegen Rasanz im Tanz, doch dann entschied sie sich für eine Umkehr.

Daher gehen die Uhren auch anders in ihrer Live-Installation Here, die zum Eröffnungsprogramm der diesjährigen Wiener Festwochen gehört. Wer also in den kommenden fünf Wochen den Hauptraum der Secession betritt, kann sich in diesem Hier die Freiheit gestatten, ein paar Gänge herunterzuschalten. Denn da wird Zeit nicht gespart, vertrieben oder totgeschlagen, sondern gedehnt, relativiert und gewonnen.

Zu den Festwochen, die sich vorgenommen haben, gesellschaftliche Zustände in der Pandemie-Spätphase zu beleuchten, passt dieser Teil ihres Auftaktprogramms ebenso gut wie das Konzert samt Festzug auf dem Rathausplatz und die Ausstellung And if I devoted my life to one of its feathers? in der Kunsthalle. Aber aufgepasst: Die drei Veranstaltungen markieren einen Übergang!

Konzert und Umzug im TV

So wird der Konzertabend noch ausschließlich im Fernsehen mitzuerleben sein, aber die Dauer der beiden Ausstellungen führt bereits in die Phase der heißersehnten Öffnungen. Wenn aus der bisherigen Stagnation wieder eine Lebendigkeit steigt, wie wir sie von früher kennen, schlägt Maria Hassabi im Festival einige Brücken: etwa zu dem soziale Zeit vermessenden Stück The Slowest Urgency des Wiener Choreografen Philipp Gehmacher, zu Heiner Goebbels’ tourismuskritischem Musiktheater Liberté d’action oder Markus Schinwalds kultureller Tiefenbohrung Danse Macabre.

Unter dem Vorzeichen der Pandemie gewinnt der Danse Macabre als memento mori eine ebenso punktgenau treffende Aktualität wie Hassabis Here. Zu einer Industriegesellschaft, die das Sterben am liebsten schön posthuman abschaffen würde, verhält sich das Thema Totentanz nicht gerade affirmativ. Und Here eignet sich hervorragend dafür, Widerstände gegen unsere Zeitregimes zu wecken: Schon allzu lange ist das scheinbar alternativlose Hamsterrad die neue Galeere.

Goldfarbe überall

Maria Hassabi hat die Secession zu einem weiten Raum gemacht, in dem sie die (Besuchs-)Zeit konsequent dekomprimiert. Das an sich stellt bereits ein Skandalon dar, das bei Workaholics zu Gefühlslagen zwischen Erlösungsempfindungen und Aggression führen könnte. Golden ist der Boden des gesamten Secession-Hauptraums: aufgemalte Goldfarbe dort, wo nicht goldene, teils verspiegelte Podeste stehen, ein versiegeltes Goldbassin, an einer Stelle zieht sich das Gold auch die Wand hinauf.

Ursprünglich habe sie an Trumps Protzerei mit Gold gedacht, sagt Hassabi. Darüber hinaus allerdings symbolisiert diese Installation den Boden der Tatsachen eines universal gewordenen Wirtschaftsdenkens, auf den wir alle gezwungen werden. Auf diesem Grund bewegen sich im Loop sechs jeweils in verschiedene Farben gekleidete Tänzerinnen und Performer in einer extrem langsamen und daher äußerst anstrengenden Choreografie. Zwei Stunden tanzt Hassabi selbst ein Solo, und zwei weitere Stunden dauert ein Quintett etwa mit der großartigen Alice Heyward oder dem Niederländer Robert Steijn.

Letzterer hat bereits bei anderen Gelegenheiten mit Hassabi zusammengearbeitet, darunter in dem Duett Robert und Maria, das 2011 bei Impulstanz zu sehen war. Insgesamt ist Here der vierte Auftritt der heute international renommierten Künstlerin in Wien. Mit Still Smoking hatte sie vor 15 Jahren – ebenfalls bei Impulstanz – hier erstmals ein eigenes Stück präsentiert. (Helmut Ploebst, 14.5.2021)