Die Bühne im fahlen Licht. Die Silhouetten der Schauspieler lauern im Hintergrund. Man hört Windrauschen, ein Tröpfeln, das sich zum Regensturm steigert, Theaterdonner. Ein Klavier setzt ein, eine Frau beginnt zu singen, von ihrem Schmerz, ihrem verlorenen Sohn. Ein treibender Albtraum, aus dem man davonlaufen möchte, aber es gibt kein Entrinnen. Ihr Gesang steigert sich zum Schrei – da kracht aus dem Bühnenhimmel eine Vase zu Boden.

Der Sturm, der in Arthur Millers Drama Alle meine Söhne quasi zu Beginn steht, er wird am Landestheater Bregenz musikalisch umgesetzt (Tilman Ritter). Ein starker Anfang, eine starke Setzung: Unter der heilen Vorstadtwelt lauert der Abgrund.

Mit Alle meine Söhne, 1947 uraufgeführt, gelang Miller der Durchbruch als Dramatiker. Es erzählt von der Moral einer Welt, die so ist, wie sie ist, weil die Menschen nicht vor allen ihren Taten davonlaufen können. Die Tat: Fabrikant Joe Keller hat wissentlich fehlerhafte Teile ans Militär geliefert, 21 Piloten stürzten ab, vielleicht auch sein älterer Sohn. Keller kam frei, er schob die Schuld auf seinen Geschäftspartner, der noch immer im Gefängnis sitzt.

Offene Schuldfrage

Die offene Schuldfrage, die Lüge, auf der Joe und seine Frau Kate ihr Leben aufbauen, wird hinter der bürgerlichen Fassade mühsam unterdrückt. Doch sie zerbricht wie die Vase des älteren Sohnes zu Beginn. Das Drama ist nicht aufzuhalten.

In Bregenz hat Regisseur Niklas Ritter den Klassiker klug auf den Kern der Handlung gekürzt: die Familie und die Schuld. Und er überträgt die Handlung ins Heute: Afghanistan und Irak statt Zweiter Weltkrieg, Internet statt Zeitung, Smoothie statt Grapefruitsaft. Das wirkt manchmal bemüht und bringt das Geschehen nicht wirklich näher.

Doch Ritter erschafft einen packenden Abend mit genauer Figurenführung. Sein Ensemble spielt präzis, allen voran Günter Alt. Er ist als Joe Keller ein explosiver Fels in der Brandung, jede Bewegung seines massigen Körpers könnte eine Drohung sein. Er hält alle Fäden und Menschen in der Hand. Seine Lüge hat er so verinnerlicht, dass er sie als Wahrheit verkauft. Seine Frau Kate (Katharina Uhland) gibt sich exaltiert, wie restbetrunken übertüncht sie ihren Schmerz um den verlorenen Sohn. Uhland darf nur selten zeigen, welche Abgründe unter ihrem Getue liegen, zu oft muss sie überkandidelt agieren wie in einer amerikanischen TV-Soap. Luzian Hirzel berührt als verletzlicher Sohn Chris, der ausbrechen will und nicht kann – seine Welt fällt in sich zusammen, als Joes Lügengebäude implodiert.

Knöcheltief in Asche

Ein Entsetzen sollte sich breitmachen in den Herzen der Zuschauer, hervorgerufen durch den Kontrast zwischen der Beschaulichkeit der Gesellschaft und dem bedrohlichen Ausbruch ihres Gewissens, so Miller über sein Stück. Niklas Ritter und Ausstatterin Ines Burisch fangen dieses Entsetzen in einem bildmächtigen Setting ein. Knöcheltief ist der Boden bedeckt mit schwarzen Aschefetzen. Sie taumeln aus dem Bühnenhimmel herab, als wäre kurz zuvor ein Feuersturm vorbeigerast. Wie schwarzer Schnee deckt die Ascheschicht alles zu, rieselt auf Tisch, Körper, Schultern. Niemand kann entkommen.

(Julia Nehmiz, 14.5.2021)