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Kossert verweist in seiner Darstellung unter anderem auch auf künstlerische Projekte, wie etwa "The List" der türkischen Künstlerin Banu Cennetoğlu, eine Namensliste von im Mittelmeer auf der Flucht Ertrunkenen, welche sie ständig ergänzt.

Foto: AP / Sergi Camara

An einer Weltgeschichte der Heimatlosigkeit versucht sich Historiker Andreas Kossert mit dem Buch Flucht. Wie schon Philipp Ther mit seiner Studie Außenseiter führt Kossert vor, dass Vertreibung und Neubeginn keineswegs die Ausnahme stellen, sondern dass es ständig Migrationsbewegungen gab, dass die Aufnahmegesellschaften auch stets damit zurechtgekommen waren und letztlich sogar davon profitierten.

Das Besondere an Kosserts Darstellung ist die Verwendung unzähliger Aussagen von Zeitzeugen und literarischer Berichte, die gemäß einer Dramaturgie geordnet werden, welche zeigt, dass sich Gemeinsamkeiten für Geflüchtete verschiedener Geografien und Kulturen feststellen lassen: Die Kapitel Weggehen, Ankommen, Weiter leben, Erinnern führen schließlich zur Frage, wann man denn endgültig angelangt sei.

Im Laufe der Lektüre bildet sich ein vielstimmiges Narrativ heraus, welches anmahnt, dass es an der Zeit ist, Geschichte nicht nur aus der Perspektive von Sesshaften und damit Privilegierten zu schreiben. Im Gegensatz zu Ther schildert Kossert sowohl die historischen Bedingungen von Vertreibung, die Fluchtwege als auch die schwierigen Prozesse am Ankunftsort.

Hier beginnen neue Probleme, die Existenz ist keineswegs gesichert, ein gleichberechtigtes Weiterleben nicht garantiert. Auch prägt das Trauma der Vertreibung nachfolgende Generationen. Ungewissheit und Trauer von Geflüchteten werden meist so lange verdrängt, bis die Zugewanderten Ununterschiedene geworden sind.

Diese Verdrängung führt unter anderem dazu, so Kosserts These, dass die Angst vor einer Wiederholung jener Unsicherheiten der Vorfahren in einer Ablehnung von später Eingewanderten mündet. Deutlich wird zudem, dass die inoffizielle Geschichte der Flucht vor allem in Gegenständen und privaten Erinnerungen enthalten ist, welche oft ihren Ausdruck in literarischen Texten finden.

Philosophie des Exils

Kossert zitiert in seiner Darstellung deshalb vor allem aus Memoiren, Autobiografien, Gedichten und Romanen, skizziert hier und da künstlerische Projekte, wie etwa The List der türkischen Künstlerin Banu Cennetoğlu, eine Namensliste von im Mittelmeer auf der Flucht Ertrunkenen, welche sie ständig ergänzt. Ankommen heißt also nicht automatisch da sein. Ausgrenzungen von Fremden gab es immerzu.

So wie heute religiöse Unterschiede zwischen Christen und Muslimen als unüberwindbare Hindernisse dargestellt werden, sah man es einst als Unmöglichkeit an, dass sich geflüchtete Protestanten in katholischen Gegenden niederließen. Und wo heute nationale Strömungen die Höherwertigkeit von Deutschen propagieren, wurden noch vor ein paar Jahrzehnten aus Polen vertriebene Deutsche nicht als echt deutsch akzeptiert, sondern als Polacken beschimpft.

Kollektive Ängste

Flucht ist voll von solchen Beispielen, die deutlich machen, dass Abweisungen auf kollektiven Ängsten gründen, nicht auf tatsächlichen Unterschieden. Kossert lässt Zeugnisse sprechen, welche die Perspektiven jener Menschen vermitteln, die flüchteten, im Aufnahmeland um Anerkennung kämpften, die Erinnerungen an Vertreibung und Verlust ihr Leben lang nicht loswerden und dieses Transitorische ihren Nachkommen weitergeben.

Er verortet den Anfang dieser Invariante menschlicher Existenz in der biblischen Erzählung von der Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies, führt das Narrativ bis ins Heute, in die Gedichte von 2015 Geflohenen.

Was uns fehlt, ist eine Geschichte der Flucht, eine Philosophie des Exils, eine Literatur der Wanderschaft, die gleichwertig neben der Kultur von Ansässigen existierte. Das ist in einer Zeit, wo ein weltweit grassierendes Virus vor allem nationale Strategien und Abschottung hervorruft sowie antidemokratischen Bewegungen Auftrieb verschafft, eine utopisch scheinende Vision, die es trotzdem zu verfolgen gilt. (Sabine Scholl, 15.5.2021)