Teststraße beim Eurovision Song Contest in Rotterdam.

Schreuder

ESC-Superfan Marco Schreuder bloggt aus Rotterdam.

Schreuder

"Open Up" war das bereits Ende 2019 präsentierte Motto des Eurovision Song Contest 2020, der das erste Mal seit 1980 in den Niederlanden stattfinden sollte, doch wegen der beginnenden Pandemie dann abgesagt werden musste. Das Motto blieb auch 2021 erhalten und wurde nicht ins Gegenteil – "Lock Down" – geändert. Die öffentlich-rechtlichen Sender Avrotros und Nos, die den diesjährigen Song Contest in Rotterdam mit der EBU (European Broadcasting Union) organisieren, mussten eine "strenge Insel" in einer recht nachlässigen Stadt mit hohen Inzidenzen organisieren, denn Maskentragen wirkt sonst im Alltag der Hafenstadt eher wie eine freiwillige Übung. FFP2 ist für alle Delegationen und Medienvertreter verpflichtend, in den Niederlanden noch sehr ungewohnt. Als Österreicher ist man erstaunt, wie viele Delegationen anderer Länder noch nie von FFP2 gehört haben.

Eurovision Song Contest

Für die Künstler ist die Rotterdamer Ausgabe 2021 jedenfalls herausfordernd. Sie dürfen sich nur in ihren Hotels aufhalten und sich mit offiziellen Eurovision-Transportbussen in die Arena fahren lassen. Das Hotel verlassen dürfen sie nur, um zu joggen – und auch das nur, wenn sie alleine sind. Alle anderen Ausflüge oder PR-Termine müssen genehmigt werden. Viele Acts waren im Vorfeld geschockt darüber.

Der Deutsche Sänger Jendrik sagte im Interview, kurz bevor er nach Rotterdam aufbrach, wie sehr es ihn treffe, keine anderen Künstler kennenlernen zu können: "Ich hoffte echt, ich könnte alle anderen Künstler treffen. So schade, dass es keine Partys gibt. Ich bin froh, dass ich meine Crew dabeihabe, damit ich nicht allzu einsam bin." Vincent Bueno, der dieses Jahr Österreich vertritt, sieht das wiederum wesentlich entspannter. "Das hilft mir, mich nicht abzulenken und mich voll auf den Auftritt zu konzentrieren." Mittlerweile konnte er aber offenbar Ausflüge mit der Delegation unternehmen. Er besuchte etwa die Windmühlen in Kinderdijk.

Live on Tape

Aber was passiert, wenn die Covid-19-Protokolle eine Infektion doch nicht verhindern können? Dann wird die gesamte Delegation unter Quarantäne gestellt. Dafür hat sich die EBU die "Live on Tape"-Aufnahme ausgedacht. Bereits im März musste jeder Act unter strenger Aufsicht einen Liveauftritt aufzeichnen und der EBU übermitteln. Sollte ein Kandidat am Abend der Show nicht auftreten können, wird dieses Tape eingespielt. Vincent Bueno etwa machte seine "Live on Tape"-Aufnahme ihm März auf der "Starmania"-Bühne des ORF.

Bei einem Act ist bereits jetzt bekannt, dass wir den Auftritt aus der Konserve sehen werden. Australien ist nicht nach Rotterdam geflogen. Die Sängerin Montaigne und ihr Team haben sich entschieden, ihr Land nicht zu verlassen. Da Australien die Pandemie gut im Griff hat, sind Auslandsreisen nur unter strengen Auflagen möglich. Vermutlich hätte sie eine Ausnahmeregelung erwirken können, aber dann womöglich Kritik erhalten. Daher entschied sich der australische Sender SBS, nicht in Rotterdam vor Ort aufzutreten.

Neue alte Künstler

Die allermeisten Künstler, die bereits 2020 angetreten wären, wurden auch dieses Jahr nominiert. Nur einige Länder haben sich still und heimlich von ihren Künstlern verabschiedet, etwa Deutschland und Frankreich. Manche Länder wiederum haben erfolgreiche und traditionelle Vorentscheidungsshows, beispielsweise das Festival di Sanremo in Italien oder das Melodifestivalen in Schweden. Ein Verzicht auf diese Quotenbringer wäre für die Sender undenkbar gewesen, also wurde ein neuer Act gesucht.

Eine weitere Neuerung bei diesem Song Contest sind die Backgroundsänger. Zum ersten Mal dürfen sie beim Playback mit eingespielt werden und müssen nicht mehr live singen. Davon macht etwa Island kreativ Gebrauch. Daði Freyr bat seine Fans zu singen, und rund 1.000 sangen mit und sind damit indirekt Teil eines Eurovision-Acts (auch der Autor dieser Zeilen). Damit sind dieses Jahr sogar bombastische Chöre möglich, denn normalerweise sind nicht mehr als sechs Personen, inklusive Tänzer und Backgroundsänger, auf der Bühne zugelassen.

Das Online-Pressezentrum

Für die Medienvertreter ist der diesjährige Eurovision Song Contest ebenfalls eine neue Erfahrung. Die Gänge innerhalb der Arena sind in Einbahnstraßen abgetrennt. FFP2-Masken sind ebenso verpflichtend wie regelmäßige Tests, dafür entfiel die Quarantänepflicht. Die Tests werden in großen Testzelten vor dem Areal unter dem Motto "Open Up for Tests" durchgeführt. Akkreditierungen werden immer nur für 48 Stunden ausgestellt. Ist man zwischenzeitlich nicht getestet gewesen, wird der Zutritt gesperrt. Interviews im Pressezentrum finden nur mit großem Abstand statt.

Es ist vor Ort ohnehin nur eine deutlich geringere Anzahl an Pressevertretern zugelassen. Ein Online-Pressezentrum bietet allen Akkreditierten in ihren Heimatländern zusätzlichen Zugang mit Übertragungen von Proben und Pressekonferenzen. Auch Interviews können online durchgeführt werden. So haben auch kleinere Fanblogs, die bislang noch nie akkreditiert waren, die Möglichkeit zu partizipieren. Eine technische Neuerung, die wohl für länger bleiben wird.

Sorgloses Rotterdam

Die Maskendisziplin in der Maas-Stadt Rotterdam selbst ist aber, so wie in den gesamten Niederlanden, erstaunlich nachlässig. In den öffentlichen Verkehrsmitteln tragen viele ihren Mund-Nasen-Schutz bevorzugt als Kinnwärmer. FFP2-Masken sieht man kaum. Shops dürfen unter strengen Auflagen Kunden empfangen, Lokale ihre Schanigärten von 12 bis 18 Uhr öffnen. Dort sieht man fröhliche Menschen ohne Masken eng zusammensitzen, auch das Personal bedient häufig masken- und abstandslos.

Foto: Marco Schreuder

"Wir Niederländer lassen uns einfach nicht gerne kontrollieren und etwas vorschreiben", sagt ein Kellner in der hippen Witte de Withstraat, wo das ausgehhungrige Rotterdam sich mittlerweile – zumindest zu den erlaubten Zeiten – auf den Terrassen der Lokale trifft. Eine Rezeptionistin sagt achselzuckend: "Wahrscheinlich haben wir ja deshalb so hohe Infektionsraten", und begrüßt daraufhin neue Gäste in ihrem Hostel. Nah und maskenlos. Dafür überraschend, wie sich alle um Punkt 18 Uhr auf den Weg machen, um nach Hause zu gehen. "Wir müssen nie jemanden rauswerfen. Die gehen alle gleichzeitig. Es ist hier eine laute Straße, aber um Punkt 18 Uhr eine Geisterstadt." Rotterdam macht in den ersten Tagen bei der Corona-Bekämpfung einen sehr zwiespältigen Eindruck. Die Wocheninzidenz liegt landesweit zurzeit bei 287.

Fanvorfreude

Für die Fans des Eurovision Song Contest ist die Tatsache, dass überhaupt eine ESC stattfindet, noch immer die größte hoffnungsgebende Tatsache. Am Tag, als die Proben begannen, ließen Fans auf Twitter ihren Gefühlen freien Lauf. Dass sich wieder international Künstler treffen, um in einem fröhlichen Wettbewerb Europa und Vielfalt zu feiern, lässt das Motto "Open Up" dann sehr passend und optimistisch klingen. (Marco Schreuder, 14.5.2021)