Die Gruppe der über 60-Jährigen wird in China immer größer.

Foto: AFP/WANG Zhao

Shanghai war schon immer eine Art liberaler Außenposten Chinas – oder zumindest hält es sich dafür. "Zwei oder drei Kinder zu bekommen war eigentlich noch nie ein Problem hier", sagt Aileen Yu. "Man muss nur eine Gebühr bezahlen, aber wer wohlhabend ist, konnte sich das eigentlich immer leisten." Noch keine zehn Jahre ist es her, da hörte man noch Geschichten von Zwangssterilisationen aus der Provinz, weil ein Bauernpaar es gewagt hatte, ein zweites Kind zu bekommen. In Shanghai aber klang das immer nach "Geschichten aus dem wilden Hinterland". Selbst aber ist die 35-jährige Bewohnerin der 23-Millionen-Stadt kinderlos.

So geht es vielen Chinesen. Seit 2016 ist die Ein-Kind-Politik abgeschafft und durch eine Zwei-Kind-Politik ersetzt. Auf die Geburtenrate hat sich das aber nicht ausgewirkt. Im Gegenteil. Zum ersten Mal seit 60 Jahren ist die chinesische Bevölkerung nicht wirklich gewachsen. 1,41 Milliarden Einwohner leben auf dem Staatsgebiet der Volksrepublik, und damit "nur noch" eine Million mehr als vor zehn Jahren. Das ergab eine im Dezember durchgeführte Volkszählung, die alle zehn Jahre stattfindet. Jeder fünfte Chinese ist heute schon über 60 Jahre alt. Während diese Altersgruppe wächst, nimmt die Geburtenrate ab: Die liegt derzeit bei 1,3 – Tendenz fallend.

Wohnung kaufen kaum leistbar

Yu und ihr Mann aus Shanghai haben keine finanziellen Probleme: "Mein Mann und ich wollen einfach keine Kinder haben, obwohl wir uns das gut leisten könnten." Das Paar besitzt bereits zwei Eigentumswohnungen in der Metropole, die in den vergangenen Jahren stetig an Wert gewonnen haben. Das aber ist für junge Leute ein großes Problem. Eine Wohnung zu kaufen ist für viele Berufsanfänger zu einem völlig utopischen Unterfangen geworden.

Genau dies wiederum verlangen viele Schwiegereltern in spe, bevor sie einer Heirat zustimmen. "Meiyou fangzi, meiyou laopo", heißt es – ohne Wohnung keine Frau. Und so bleiben viele junge Chinesen Single, und von denen wiederum sind viele Männer. Aufgrund pränataler Diagnostik und Ein-Kind-Politik wurden in den Achtzigerjahren vor allem auf dem Land viele Mädchen abgetrieben.

Folgen für die Wirtschaft

Peking aber stellt das vor Probleme, die Europa und Japan nur zu gut kennen: Die Gesellschaft überaltert. Das hat gravierende Folgen für die Sozialsysteme. Das Wirtschaftswachstum fällt immer geringer aus, und eine immer kleiner werdende erwerbstätige Bevölkerung muss eine immer größer werdende Gruppe aus Pensionisten versorgen. In Europa versucht man das Problem über Zuwanderung zu lösen. Japan setzt eher auf Roboter und künstliche Intelligenz, um die vielen Alten zu versorgen und die Wirtschaft am Laufen zu halten.

Peking aber steht bisher keines dieser Mittel zur Verfügung. China ist kein Einwanderungsland und wird auch keines werden – dazu ist das repressive politische System zu unattraktiv und die Gesellschaft, abgesehen von ein paar Expats in Shanghai und Peking und philippinischen Gastarbeitern, geschlossen.

Um voll auf Technologie zu setzen, ist das Land aber noch zu arm. Auch wenn Propaganda-Bilder aus dem chinesischen Tech-Hub Shenzhen von selbstfahrenden Taxis und Paketliefernden Drohnen etwas anderes suggerieren – ein großer Teil der Bevölkerung lebt noch immer knapp über der Armutsgrenze.

Zweifel an Statistik

Und schließlich gibt es auch Zweifel an den offiziellen Zahlen. Unabhängige Experten vermuten, dass die tatsächliche Bevölkerungszahl noch niedriger ist. "Die wahre Bevölkerungszahl hat 2020 höchstwahrscheinlich die 1,28 Milliarden nicht überschritten – weit weniger als die offiziell genannten 1,4 Milliarden", sagte Familienplanungsexperte Yi Fuxian von der Universität von Wisconsin der Nachrichtenagentur dpa.

Kein Zweifel aber besteht daran, dass auch das Reproduktionsverhalten der Chinesen irgendwie staatlich reguliert und stimuliert werden muss. Liang Jianzhang, ein Pekinger Professor, forderte deswegen vor kurzem, jedes Paar, das ein Baby zeugt, mit einer Million Yuan, rund 120.000 Euro, zu belohnen und so die Geburtenrate auf 2,1 zu erhöhen. Immerhin wurde der Vorschlag des Professors auf dem chinesischen Kurznachrichtendienst Weibo kontrovers diskutiert. (Philipp Mattheis aus Shanghai, 14.5.2021)