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In Beit Hanoun im Norden des Gazastreifens wurden mehrere Häuser zerstört.

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Tel Aviv – Im eskalierenden Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern steigt die Zahl der Toten weiter: Seit Beginn des Raketenbeschusses auf Israel aus dem Gazastreifen am Montag und Israels Vergeltungsangriffen starben laut beiden Seiten 127 Menschen. Durch die israelischen Luftangriffe seien 119 Palästinenser getötet worden, darunter 31 Kinder, teilte das von der radikalislamischen Hamas geführte Gesundheitsministerium im Gazastreifen mit. In Israel starben acht Menschen.

International wächst wegen der andauernden Gewalteskalation die Befürchtung, dass es zu einem offenen Krieg zwischen Israel und militanten Palästinensern kommen könnte. Seit Montag wurden aus dem Gazastreifen mehr als 1.800 Raketen auf Israel abgefeuert – darunter auch auf Tel Aviv und Jerusalem. Hunderte Raketen wurden vom israelischen Raketenabwehrsystem Iron Dome abgefangen.

Die israelische Armee bombardierte in den vergangenen Tagen ihrerseits rund 750 Ziele im Gazastreifen. Ihren Angaben zufolge handelte es sich dabei um militärische Ziele wie Waffenfabriken oder Häusern von Hamas-Kommandanten. Nach Schätzungen der israelischen Armee wurden bei den Angriffen bereits mehr als 30 Anführer militanter Palästinenserorganisation wie der Hamas und des Islamischen Jihad getötet.

"Stadt unter der Stadt" getroffen

Bei ihrem jüngsten Angriff beschoss Israels Armee nach eigenen Angaben ein Tunnelsystem der islamistischen Hamas im Gazastreifen. An dem 40-minütigen Angriff seien 160 "Luftfahrzeuge" mit Panzerunterstützung beteiligt gewesen, sagte Armeesprecher Jonathan Conricus Freitagfrüh. Demnach handelte es sich bei dem Tunnelsystem, das "Metro" genannt werde, um eine Art "Stadt unter der Stadt". Der Grad der Zerstörung sei noch unklar. Zur Unterstützung feuerten unter anderem Panzer von israelischer Seite auf Ziele im Gazastreifen. Conricus betonte, kein israelischer Soldat habe den Gazastreifen betreten.

Im Norden und Osten des Gazastreifens waren auch Freitagfrüh Artilleriefeuer und Explosionen zu hören. Augenzeugen zufolge verließen viele Familien ihre Wohnungen und suchten Schutz in von den Vereinten Nationen (UN) geführten Schulen.

Ein Geschoß aus dem Gazastreifen traf ein Wohnhaus in der israelischen Küstenstadt Ashkelon.
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Angriffe werden fortgesetzt

Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu erklärte in der Nacht zu den Angriffen: "Ich habe gesagt, dass die Hamas einen sehr hohen Preis zahlen wird." Man werde die Angriffe "mit großer Intensität fortsetzen", sagte er in einer Videobotschaft. "Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen, und diese Operation wird so lange wie nötig weitergehen." Verteidigungsminister Benny Gantz hatte zuvor die Mobilisierung von weiteren 9.000 Reservisten genehmigt.

Am kommenden Sonntag befasst sich der UN-Sicherheitsrat in einer Dringlichkeitssitzung erneut mit der Eskalation im Nahen Osten. US-Außenminister Antony Blinken hatte einen früheren Termin abgelehnt und erklärt, ein paar Tage mehr Zeit könnten bewirken, dass die Bemühungen hinter den Kulissen für ein Ende der Kämpfe möglicherweise Früchte tragen.

Das 15-köpfige UN-Gremium hat in dieser Woche bereits zweimal hinter verschlossenen Türen getagt, sich aber nicht auf eine gemeinsame Erklärung einigen können. Die Vermittlungsbemühungen der Uno, Ägyptens und Katars für ein Ende der Kämpfe blieben bisher ohne erkennbaren Erfolg. Die USA als enger Verbündeter Israels kündigten die Entsendung des Nahost-Experten Hady Amr als Sondergesandten in die Region an.

Ägypten will vermitteln

Israel lehnte unterdessen ein Angebot Ägyptens zur Vermittlung einer Feuerpause ab. Vertreter Israels hätten alle Vorschläge zur Vermittlung einer Waffenruhe zurückgewiesen, erfuhr die Deutsche Presseagentur am Freitag in Kairo aus ägyptischen Sicherheitskreisen – auch eine vorübergehende Feuerpause. Eine Delegation aus Kairo, die am Donnerstag nach Tel Aviv gereist sei, habe keinen Erfolg gehabt.

Ägypten trat im Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern schon mehrfach als arabischer Vermittler auf. Auch im Gazakrieg 2014 hatte das Land mit auf eine Waffenruhe hingewirkt.

Zuspitzung

Die Gefechte zwischen Israel und den militanten Palästinenserorganisationen sind die heftigsten seit dem Gazakrieg 2014. Der Konflikt hatte sich während des muslimischen Fastenmonats Ramadan und nach der Absage der palästinensischen Parlamentswahl immer weiter zugespitzt. Als Auslöser gelten etwa Polizei-Absperrungen in der Jerusalemer Altstadt, die viele junge Palästinenser als Demütigung empfanden. Hinzu kamen Auseinandersetzungen von Palästinensern und israelischen Siedlern im Jerusalemer Viertel Sheikh Jarrah wegen Zwangsräumungen sowie heftige Zusammenstöße auf dem Tempelberg.

Israel macht die im Gazastreifen herrschende Hamas für alle Angriffe aus dem Gazastreifen verantwortlich. Die zweitgrößte Palästinensergruppe wird von Israel und der EU als Terrororganisation eingestuft. Die Hamas erklärte sich zum Verteidiger Jerusalems. Von Israel verlangte sie zu Wochenbeginn per Ultimatum unter anderem, dass alle israelischen Polizisten und Siedler den Tempelberg und Sheikh Jarrah verlassen – Israel folgte dem nicht. Die Hamas hat ihren Raketenbeschuss unter das Motto "Schwert von Jerusalem" gestellt. Israel nennt seinen Einsatz "Wächter der Mauern".

Gewalt auch im Kernland

Nach der Eskalation des Gaza-Konflikts ist es auch in Städten im israelischen Kernland, wo ein hoher Anteil arabischer Israelis lebt, zu Gewalt gekommen. Am Mittwoch wurde im Norden des Landes ein jüdischer Einwohner von arabischen Demonstranten lebensgefährlich verletzt. Südlich von Tel Aviv attackierte eine jüdische Menge einen arabischen Einwohner mit Knüppeln. Seit Beginn der Ausschreitungen hat die Polizei insgesamt 750 Verdächtige festgenommen.

Die israelische Polizei nahm auch am Freitag bei neuen Ausschreitungen in mehreren Städte einige Verdächtige fest. In Lod bei Tel Aviv schleuderten Menschen Steine und Molotowcocktails, wie ein Polizeisprecher mitteilte. Sie griffen demnach auch Polizisten an.

In Tel Aviv wurden in der Nacht zudem zwei Verdächtige mit Eisenstangen festgenommen – mehr Einzelheiten zu dem Fall gab die Polizei zunächst nicht bekannt. Auch in den Städten Beerscheva und Netanja wurden mehrere Menschen festgenommen. In dem Ort Kalansawe in der Nähe des Westjordanlands untersucht die Polizei einen Vorfall, bei dem eine Polizeistation in Brand gesteckt worden sein soll.

Zwei Tote bei Protest an libanesisch-israelischer Grenze

Auch im nördlichen Nachbarland Libanon kam es zu Protesten an der Grenze. Bei Zusammenstößen sind dabei zwei Demonstranten aus dem Libanon ums Leben gekommen, einer von ihnen durch Panzerfeuer. Ein 21-Jähriger sei getroffen worden, nachdem er mit Dutzenden anderen am Freitag über den Grenzzaun auf israelisches Gebiet gelangte, berichtete die staatliche libanesische Agentur NNA. Laut Augenzeugen wurde er am Bauch getroffen und starb später im Krankenhaus. Ein zweiter Demonstrant wurde angeschossen und erlag seinen Verletzungen.

Die israelische Armee bestätigte am Freitag, dass Panzer die Warnschüsse auf eine Gruppe von Randalierern abfeuerten. Diese hätten den Zaun beschädigt und Feuer gelegt, ehe sie in libanesisches Gebiet zurückkehrten. Die Demonstranten zeigten ihre Solidarität mit den Menschen in Gaza und Jerusalem und schwenkten palästinensische Flaggen mit Blick auf das Dorf Metula im Norden Israels.

Ein israelisches Kampfflugzeug griff im Libanon im Morgengrauen auch ein Fahrzeug an, wie es aus libanesischen Sicherheitskreisen hieß. Anrainer in der Region Hermel im Nordwesten nahe der Grenze zu Syrien berichteten von einer lauten Explosion. Unbestätigten Berichten zufolge wurde dabei ein Militärfahrzeug der Hisbollah getroffen. Eine offizielle Bestätigung gab es dafür nicht. Aus dem Libanon wurden am Donnerstag drei Raketen auf Israel abgefeuert.

Der Libanon und Israel befinden sich offiziell noch im Krieg. An der gemeinsamen Grenze kommt es immer wieder zu Spannungen zwischen der israelischen Armee und der Hisbollah. Sie ist eng mit dem Iran verbündet und sieht wie Teheran in Israel einen Erzfeind. Der letzte Krieg zwischen der Hisbollah und Israel endete vor 15 Jahren. (APA, dpa, AFP, Reuters, 14.5.2021)