In der kurzfristigen Betrachtungsweise sind Sebastian Kurz und sein System zwar in einer echten, selbstverschuldeten Bredouille, aber seine Aussichten sind nicht so schlecht. Möglicherweise kommt es zu einer Anklage wegen Falschaussage vor dem U-Ausschuss, aber er baut bereits vor. Ständig wiederholt er: "Ich bin auch mit dem Vorsatz in den U-Ausschuss gegangen, natürlich dort wahrheitsgemäß zu antworten."

Also keine vorsätzliche Falschaussage, also keine Verurteilung. Es ist auch möglich, dass es zu gar keiner Anklageerhebung kommt, aber Werner Kogler sagte am Freitag, man werde darauf achten, dass nichts "daschlogn" wird. Kurz müsse sich der Justiz stellen.

Dafür müssen die Grünen allerdings das Justizministerium halten. Sprengen sie die Koalition, weil ihnen (und ihrer Basis) ein angeklagter Kanzler als unmöglich erscheint, wird das schwieriger (z. B. wenn der Bundespräsident bis zu Neuwahlen wieder eine Expertenregierung bestellt). Wahlen würde Kurz ohnehin mit einiger Wahrscheinlichkeit gewinnen – mit dem Spin: "Ich bin ein Opfer roter Netzwerke in der Staatsanwaltschaft und einer versilbersteinten Opposition." (Dann stellt sich allerdings die Frage, mit wem er anschließend eine Koalition bilden will).

Wirkt Kurz im vierten Jahr seiner Kanzlerschaft wirklich noch stabil und überzeugend?
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Die Grünen können im Moment nicht wirklich Neuwahlen wollen. Es gibt auch keine Hinweise, dass schon Gespräche über eine dann anschließende Dreierkoalition Rot-Grün-Neos (eventuell mit Duldung der FPÖ) laufen. Und die große Frage ist, wie informiert und empört breite Kreise der Bevölkerung über die ganzen, komplizierten Vorgänge sind.

Sebastianus Invictus

Der Fall von Kurz scheint nicht unmittelbar bevorzustehen. Aber auch nicht eine triumphale Apotheose des Sebastianus Invictus.

Denn es gibt noch eine grundsätzlichere, längerfristige Betrachtungsweise: Wie stabil, wie seriös, wie überzeugend erscheint Kurz nun im vierten Jahr seiner Kanzlerschaft? Seit er an der Spitze ist, gibt es Krach.

Dass er 2017 die Obmannschaft der ÖVP eroberte, die rot-schwarze Regierung sprengte und mit der umstrittenen FPÖ eine Koalition einging, mag als forsche, frische Aktion eines jungen Aufsteigers empfunden worden sein. Dann stellte sich anderthalb Jahre später der Partner FPÖ als regierungsunfähig heraus (was jeder Kenner vorher wusste). Die Koalition platzte im Mai 2019 wegen Ibiza. Kurz wurde von der parlamentarischen Opposition gestürzt. Er gewann die Wahlen im Herbst, ging eine Koalition mit den Grünen ein, alles schien paletti. Dann kam Corona, und das Management der Krise war von keiner Seite ideal. Aber dass der grüne Gesundheitsminister Rudolf Anschober das Handtuch schmiss, daran sind auch das Mobbing und Hineinregieren von Kurz und Co beteiligt.

Jetzt liegt er im systemischen Streit mit "tragenden Säulen der Republik" – Justiz, Verfassungsgerichtshof, der parlamentarischen Kontrolle. Die Grünen winden sich. Das "System Kurz" heißt: "Unterwirf dich, oder es gibt Krach".

Kann man so auf Dauer erfolgreich regieren? Kurz polarisiert. Sein Schicksal wird sich daran entscheiden, ob er den Wählerinnen und Wählern zu viel polarisiert. Es gab vor ihm begabte, junge Politiker mit glänzendem Auftreten – Hannes Androsch, Jörg Haider, Karl-Heinz Grasser. Sie hatten hohe Beliebtheitswerte, aber um sie war am Ende zu viel Krach. Nur Kurz hat es bis zum Kanzler geschafft, das ist der Unterschied. Aber es ist schon zu viel Krach um ihn. Die Österreicher lieben einen Wirbel, aber dann muss auch einmal wieder eine Ruhe sein. (Hans Rauscher, 15.5.2021)