Kanzler Kurz am Mittwoch, kurz bevor er seinen Status als Beschuldiger verkündet

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Vielleicht wird die Geschichte von Sebastian Kurz zu einer griechischen Tragödie: Da ist ein junger Mann, der das Volk für sich einnehmen kann wie kaum ein Politiker in den Jahrzehnten zuvor. Doch genau diese Gabe und auch der Hang, sich als neuer, sauberer, ehrlicher Staatsmann zu inszenieren, könnten ihm schlussendlich zum Verhängnis werden. Vor allem weil es wirkte, als glaubte Kurz immer mehr selbst daran, über dem Parlament und anderen Institutionen zu stehen.

Als ihn der U-Ausschuss im Sommer 2020 zu Vorwürfen des Postenschachers befragte, blieb Kurz seinem Image treu: Alles sei korrekt abgelaufen, Mauscheleien ein Ding der Vergangenheit. Er sah die Befragung weniger als ernste Gefahr, mehr als lästige Pflicht.

Jetzt verdächtigt die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft den Kanzler, vor dem U-Ausschuss zu drei Themen falsch ausgesagt zu haben. Immer fällt dabei ein Name: Thomas Schmid. Der Chef der staatlichen Beteiligungsholding Öbag und vor allem sein Smartphone sind zum Einfallstor für die Justiz geworden. Sie braucht keinen Kronzeugen, den sie mühsam bearbeiten muss. Sie hat etwas viel Besseres: sehr, sehr viele Chats – allein bei Schmid rund 300.000 Nachrichten.

Dazu kommt eine große Menge weiterer Daten, die Liste der Besitzer sichergestellter Handys ist lang. All das ermöglicht den Ermittlern einen Blick durchs Schlüsselloch, als wären sie hautnah dabei gewesen.

Eiskalte Machtpolitik

Sie sehen, wie eine Gruppe vor allem junger Männer die wichtigsten Schaltstellen der Republik besetzt hat. Mit viel Machtbewusstsein und nicht allzu viel Respekt vor dem sensiblen Gefüge der Institutionen.

Speedrun: So heißt eine populäre Herausforderung in der Welt der Videospiele. Wer schafft es, möglichst schnell alle Levels von Super Mario durchzuspielen? Wäre die heimische Politik ein Videospiel, wäre Sebastian Kurz Rekordhalter im Speedrun. Mit 23 wurde er Chef der Jungen Volkspartei, mit 24 Gemeinderat in Wien, mit 25 Integrationsstaatssekretär, dann jüngster Außenminister, dann jüngster Kanzler. Der kometenhafte Aufstieg des Sebastian Kurz lag auch an den Umständen: Nach einem Jahrzehnt der großen Koalitionen unter roten Bundeskanzlern wollten viele Menschen in diesem Land etwas Neues, etwas anderes. Gleichzeitig lag sein Erfolg auch an ihm und seinem engsten Team, das meisterhaft einen gut durchdachten Plan in die Tat umgesetzt hat.

Loyalität und Kontrolle

Die wichtigsten Zutaten: Man rückt nach rechts, ist aber höflicher, freundlicher und spricht weniger radikal als die FPÖ. Man kontrolliert das öffentliche Bild von sich selbst, vor allem mit klar orchestrierten Kampagnen. Man ist loyal, vor allem wenn Gegenangriffe kommen. Und man füllt die leeren Parteikassen, indem man Unternehmer und Superreiche für die eigenen Ideen begeistert und Spenden lukriert. Die Übernahme der Partei durch Kurz, die ersten Schritte: All das war genau getaktet und hat perfekt funktioniert.

Es gab jedoch eine wichtige Bedingung für das Funktionieren der neuen Volkspartei: Die Innenwelt musste vor der Außenwelt verborgen werden. Die türkis-blaue Koalition musste als harmonisch inszeniert werden, obwohl es intern immer wieder heftig krachte; Kurz seinen Vizekanzler Strache etwa bat, ihn "nicht für deppert zu verkaufen". Postenbesetzungen mussten als rein sachlich inszeniert werden, obwohl nach wie vor Begehrlichkeiten von Bünden, Ländern und Vertrauten existierten. Mitarbeiter, etwa im Finanzministerium, wurden als smarte Experten präsentiert, obwohl einige bei einer Veranstaltung des Kabinetts so alkoholisiert waren, dass sie Gläser auf Passanten warfen und aus dem Lokal geschmissen wurden.

Der Anfang vom Ende der berühmt-berüchtigten Message-Control war das Ibiza-Video. In der FPÖ stürzten alle Wände ein, Parteichef Heinz-Christian Strache ergriff sofort die Flucht. Aber auch das Parteigebäude der ÖVP erwischte die politische Explosion. Der türkise Schutzwall bekam Kratzer.

Zwei Jahre später, im Mai 2021, hat die Mauer der ÖVP erhebliche Löcher. Lange hatte sie versucht, diese mit unterschiedlichen Strategien zu stopfen. So erklären sich zum Teil auch die Vorwürfe gegen den Bundeskanzler, die nun die WKStA erhebt. Als Kurz im Sommer 2020 vor den U-Ausschuss trat, wirkte die ÖVP stabil. Die Ermittler der WKStA konzentrierten sich damals vor allem auf die Untersuchung FPÖ-naher Vereine und einen unterstellten Deal zwischen den Blauen und dem Glücksspielkonzern Novomatic, den beide bestreiten. Das Smartphone von Thomas Schmid, seit April 2019 Öbag-Chef, war im Zuge der Casinos-Ermittlungen zwar schon lange sichergestellt worden, die Auswertung der Nachrichten dauerte allerdings an.

Aussitzen statt auspacken

Offenbar dachte man daher in der ÖVP, man könne unangenehme Vorgänge in den eigenen Reihen aussitzen. Die neue ÖVP wollte weiterhin anders sein. Kurz sagte also im U-Ausschuss nicht, dass schon lange klar war, dass Schmid auf den Chefposten der Staatsholding schielte, bevor diese überhaupt gegründet worden war. Kurz sagte nicht, dass er als Kanzler und Parteichef natürlich Entscheidungsmacht weit über seine formelle Zuständigkeit hatte. Kurz sagte nicht, dass es Nebenabsprachen rund um den Koalitionsvertrag gab.

Dabei wären all diese Dinge kein unkontrollierbarer Skandal geworden. Sie gehören zu dem, was man gemeinhin "Realverfassung" nennt. Wer glaubt denn ernsthaft, dass sich Koalitionspartner nicht politische Postenbesetzungen ausmachen und die Parteichefs da ein Machtwort sprechen können? Wer glaubt denn, dass es Kurz nicht recht gewesen ist, dass ein loyaler Vertrauter wie Thomas Schmid künftig das Beteiligungsmanagement der Republik kontrollieren würde?

Aber Kurz war nicht bereit, mit der Inszenierung zu brechen. Zu peinlich war es, wie Schmids Bestellung zum Öbag-Chef abgelaufen ist: Der hatte die Öbag-Entstehung selbst gemanagt, den Ausschreibungstext für den Alleinvorstand mitgeschrieben – für den er sich dann bewarb – und den Aufsichtsrat mit ausgesucht, der ihn dann bestellte. All das unter den Augen und teils mit der Hilfe von Kurz, Blümel und anderen ÖVP-Granden. Und so antwortete der Kanzler im U-Ausschuss sehr allgemein: Er war in die Vorgänge "eingebunden im Sinne von informiert"; er könne sich "nicht erinnern", dass er sich für Schmid eingesetzt habe, "aber ich habe ihn für qualifiziert gehalten". Die Entscheidung für dessen Bestellung "liegt beim Aufsichtsrat", er habe "den Aufsichtsrat nicht beeinflusst". Rein formal hat Kurz recht; tatsächlich laufen solche Besetzungen natürlich mit vielen Hintergrundgeräuschen ab.

Und so fanden die Ermittler in den vergangenen Monaten, lange nach Kurz’ Befragung im U-Ausschuss, auf den sichergestellten Smartphones Kalendereinträge und Chats, die darauf hinweisen, dass Kurz und sein Kabinettschef Bernhard Bonelli mit Thomas Schmid schon im Herbst 2018 über den Aufsichtsrat diskutierten. Der damalige Finanzminister Hartwig Löger schrieb, er habe den Aufsichtsrat "mit Sebastian besprochen"; Blümel gratulierte Schmid zur "Schmid AG", bevor man sich überhaupt für den Chefposten bewerben konnte.

"Sorry für den Stress"

All diese Chats stellte die WKStA nun den Kanzleraussagen im U-Ausschuss gegenüber, nachdem die Neos zuvor eine Sachverhaltsdarstellung eingebracht hatten. Das Resultat: Ermittlungen wegen des Verdachts auf falsche Beweisaussage. Darüber war Kurz am Dienstag informiert worden, schon am Mittwoch folgte eine Medienoffensive. Und zwar eine derart schnelle, dass Medien kaum reagieren konnten. Die kurzfristige Vorverlegung des Doorsteps vor den Ministerrat traf viele unvorbereitet: Nur fünf Journalistinnen und Journalisten nahmen im Kongresssaal Platz. "Sorry für den Stress", sagte ein Mitarbeiter des Bundeskanzleramts beim Eintreffen. Um sich über die Gründe für den früheren Start auszutauschen, blieb keine Zeit– alles ging sehr schnell, und schon stand der Bundeskanzler im Raum, um sich über die "aufgeheizte Stimmung im U-Ausschuss" zu beschweren und seine Unschuld zu betonen.

Es folgte ein Interview in der ZiB2, Donnerstag dann das Hintergrundgespräch im Kanzleramt. Mit einer Anklage wird wohl gerechnet – auch deshalb, weil die eigentlich kurze formale "Mitteilung" über die Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens in diesem Fall eine 58 Seiten lange rechtliche Würdigung der Vorgänge ist. Eine Verurteilung schließt Kurz hingegen aus. Mit einem guten Verteidiger an seiner Seite und einem nicht allzu strengen Richter könnte Kurz freigesprochen werden, sagen die einen. Eine Verurteilung ist angesichts der Beweislage nahezu sicher, sagen die anderen. Drei Juristen, fünf Meinungen.

Was dem Kanzler vor Gericht zugutekommen würde, ist sicher die Beschreibung der Situation in einem U-Ausschuss. Von vier kritischen Parteien, nämlich der Opposition und den Grünen, werden nahezu im Stakkato pointierte Fragen gestellt; quer durch viele Themengebiete. Kurz traf an jenem 24. Juni 2020 um 10.21 Uhr beim U-Ausschuss ein und verließ die Befragung um 15.04 Uhr. Es ging um Spenden, Sponsorings, Privatkliniken, die Bankenreform, die Nationalbank, um die Casinos, die Schredderaffäre, ÖVP-nahe Vereine, das Ibiza-Video, Entscheidungsabläufe unter Türkis-Blau, die Justiz und eben auch um die Öbag.

Ibiza-Irrläufer

Der U-Ausschuss ist ein politisches Gremium, neben der Aufklärung haben die Abgeordneten natürlich politische Ziele. Darunter auch den Wunsch, der ÖVP zu schaden. Das erklärt wiederum, warum die Volkspartei aus allen Rohren auf den U-Ausschuss und die Opposition schießt. Offenbar mit zunehmender Nervosität: Denn der türkise Fraktionsführer Andreas Hanger schickte ein E-Mail über Jan Krainer (SPÖ) und Stephanie Krisper (Neos) nicht nur an Kollegen aus der ÖVP sowie eine PR-Agentur, sondern auch an Krisper selbst. Das nahmen die Neos am Freitag zum Anlass, in einer eilig einberufenen Pressekonferenz das "Erstellen von Sudeldossiers" aus dem ÖVP-Parlamentsklub zu thematisieren.

Es knirscht also im türkisen Gefüge. Überlebt haben Derartiges allerdings schon andere: Die SPÖ ließ sogar einen U-Ausschuss abdrehen, um dem in der Inseratenaffäre beschuldigten Kanzler Werner Faymann die Befragung dort zu ersparen; die darauf folgende Wahl gewann er, die Ermittlungen wurden eingestellt. Ein ähnliches Szenario erhofft sich wohl auch Kurz. Sollte es zu einer Gerichtsverhandlung kommen, könnte er jedenfalls sein Talent ausspielen: sich als höflich, sauber und ehrlich geben. (Fabian Schmid, Lara Hagen, 15.5.2021)