Bei Amber Med, einer Ordination für Menschen ohne Krankenversicherung, versuchen Ärzte wie der Internist Michael Nebehay, Falschinfos richtigzustelllen.

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Meistens klären Ärzte ihre Patienten auf und nicht umgekehrt. An diesem Nachmittag möchte Alex Jonathian aber seinem Doktor etwas erklären. "Diese Impfung würde meine Niere kaputtmachen", sagt der 32-jährige Nigerianer. "Warum glauben Sie das?", entgegnet der junge Arzt und zieht die Augenbrauen hoch. "Der Impfstoff ist ein Antibiotikum", behauptet Jonathian. Der Mediziner sagt freundlich: "Der Impfstoff ist kein Antibiotikum. Gerade weil Sie nierenkrank sind, wäre es wichtig, sich gegen Corona impfen zu lassen."

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Szenen wie diese erlebt man häufig in Amber Med, einer Ordination für Menschen ohne Krankenversicherung. Die Praxis in einem schmucklosen Gebäude im Industriegebiet zwischen Liesing und Favoriten ist für Wohnungslose, abgelehnte Asylwerber und andere gestrandete Menschen in Wien ein medizinischer Zufluchtsort.

Hier wird jedem geholfen – falls er denn will. Gerade beim Coronavirus möchten das viele nicht. Sie halten es immer noch für harmlos, die Impfung dagegen für gefährlich. "Manche glauben, sie würden zwei Jahre nach der Impfung sterben oder durch den Stich unfruchtbar werden", erzählt Mariella Jordanova, die Leiterin von Amber Med. "Es kursiert in den sozialen Medien viel Blödsinn."

Alex Jonathian etwa befürchtet, dass die Corona-Impfung seinen Nieren schaden könnte.
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Das ungerechte Virus

Gesundheit war auch schon vor Corona eine soziale Frage. Menschen mit niedrigerer Bildung haben etwa häufiger Übergewicht oder Diabetes. Männliche Akademiker leben im Schnitt sechs Jahre länger als Pflichtschulabsolventen, bei den Frauen beträgt der Unterschied drei Jahre, heißt es in der Gesundheitsbefragung des Bundes von 2019.

Die Pandemie und die Frage der Impfbereitschaft dürften die Kluft zwischen Arm und Reich weiter aufreißen. Zwar werden von Bund und Ländern bisher keine Zahlen über Geimpfte und deren sozialen Status ermittelt. Es gibt aber Indizien für einen Zusammenhang. So würden sich 81 Prozent der Uni-Absolventen den Impfstoff von Biontech/Pfizer verabreichen lassen, hingegen nur 55 Prozent der Pflichtschulabsolventen, erhob die Uni Wien im März.

Noch ein Indiz: Die Stadt Wien rief im April Risikopatienten wie Asthmakranke und Übergewichtige zum Impfen auf – für die Aktion meldeten sich, umgerechnet auf die Bevölkerung, fast doppelt so viele Bewohner aus dem wohlhabenden Hietzing wie aus dem Arbeiterbezirk Favoriten an. Offenbar entwickelten die Bewohner des Nobelbezirks mehr Geschick und Eifer, um an ein ärztliches Attest zu kommen.

Die Impfbereitschaft ist in wohlhabenden Bezirken Wiens höher als in Arbeiterbezirken.
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Verschwörungsmythen beflügelt

Schon bei bekannten Krankheiten liegt die Impfquote je nach Bildung und Einkommen weit auseinander. Bei Corona dürfte es nicht anders werden, im Gegenteil. Dominik Kaiser führt die Ludwigs-Apotheke auf der Simmeringer Hauptstraße, einen großen Betrieb mit acht Kassenschaltern.

Wie in einem Supermarkt stehen die Kunden an diesem Vormittag Schlange. "Wir haben ein breites Publikum", sagt Kaiser, während er Medikamente schlichtet. "Uniprofessoren und hohe Beamte kommen eher vereinzelt."

Kaiser hat eine Erklärung dafür, warum die Covid-Impfstoffe bei vielen Kunden ein schlechtes Image haben: "Nachdem es bei der Entwicklung schnell gehen musste, haben sie relativ starke Nebenwirkungen." Dies habe die Verschwörungsmythen beflügelt. Der Apotheker hat von Kunden schon "viele wilde Gerüchte" gehört. "Wir versuchen, die Vorteile der Impfung ruhig zu erklären", sagt Kaiser, "aber am Ende ist es die Entscheidung des Einzelnen."

Nicht zu überzeugen

Einen Häuserblock weiter, im Diwan-Backshop, schiebt Mesut Sahin Fladenbrote über den Ladentisch. Sahin, 32 Jahre alt, dreifacher Vater, ist so jemand, den wohl kein Arzt von einer Corona-Impfung überzeugen kann. "Wenn ich mich impfen lassen soll, dann soll das vorher der Sebastian Kurz machen", sagt er, "und zwar direkt neben mir!"

Bäcker Mesut Sahin will sich erst impfen lassen, wenn es Kanzler Sebastian Kurz auch macht – neben ihm.
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Vor einem Jahr hat Sahin das Coronavirus noch für eine Verschwörung gehalten. Im März habe er sich dann selbst damit angesteckt. Doch er bleibt dabei, die Impfung sei gefährlicher. Seine Kinder habe er zwar gegen alles Mögliche impfen lassen – Mumps, Masern, Röteln ... "Aber bei diesen Impfungen ist mir als Kind selbst nix passiert", sagt Sahin. "Bei der Corona-Impfung wissen wir nicht, was drin ist."

Auch bei Amber Med, der Ordination für Unversicherte, erzählen manche Patienten Schauergeschichten. Ein arbeitsloser Tapezierer glaubt zu wissen, das Coronavirus werde von Flugzeugen aus in der Luft versprüht. Amber-Med-Leiterin Jordanova lässt seit April die Impfbereitschaft ihrer Patienten ermitteln. Höchstens jeder dritte habe Interesse bekundet.

Ein Problem sei, dass viele nicht an die richtigen Infos kämen. Man drucke daher die mehrsprachigen Infoblätter von der Homepage der Stadt Wien aus und gebe den Patienten die Zettel in die Hand. "Gerade die Jungen wehren sich gegen die Impfung", erzählt Jordanova. "Sie sagen, das bisschen Virus werde ich auch noch überleben."

Manche Patienten bei Amber Med erzählen Schauergeschichten.
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Eine Impfung muss reichen

Ende Mai wird für zwei Tage ein mobiles Impfservice der Stadt Wien ins abgelegene Amber Med kommen, das hat Jordanova erreicht. Der Impfstoff werde von Johnson & Johnson sein, weil davon eine Dosis reicht. Zwei Impftermine seien bei manchen Patienten illusorisch, sagt Jordanova.

In Deutschland ist längst eine Debatte entbrannt, wie man die Impfung zu Menschen in ärmeren Vierteln bringen kann. In Köln fuhr zeitweilig ein Impfbus in sogenannte "Brennpunkt-Stadtteile", in Hamburg überlegt man, Friseure zu Impfbotschaftern zu machen.

In Wien ist dergleichen bisher nicht geplant, aber auch nicht ausgeschlossen, heißt im Büro von Gesundheitsstadtrat Peter Hacker (SPÖ). Erstens zeichneten sich die Wiener Bezirke durch eine hohe soziale Durchmischung aus, zweitens gebe es noch immer mehr Willige als Impfstoff. Man habe aber etwa "Checkboxen" für PCR-Tests in der Stadt verteilt, falls jemand einen Gurgelselbsttest vor seinem Computer nicht hinbekommt.

Seit Anfang Mai impft die Stadt Wien neben Älteren und Risikogruppen auch Arbeitnehmer, die entweder mit infektiösem Material in Berührung kommen oder ins Ausland reisen müssen. Hacker betonte die sozialpolitische Stoßrichtung dabei: Es gehe um Menschen, die sich nicht aussuchen könnten, an welchem Ort sie arbeiten. Sobald genügend Impfstoff vorhanden sei, wolle man das betriebliche Impfen auf alle Arbeitnehmer mit Kundenkontakt ausweiten – vom Kellner bis zur Supermarktkassiererin.

Ende Juni dürfte sich zeigen, wie viele Menschen in Österreich wirklich impfbereit sind. Amber-Med-Patient Jonathian ist es an diesem Tag noch nicht. "Ich bin jung, eine Impfung ist etwas für alte Leute", sagt er zum Arzt. Dieser versucht noch einmal, ihn zu überzeugen. Jonathian verlässt das Behandlungszimmer und wartet auf seine Medikamente. "Ob ich mich impfen lasse? Die Chance steht 50:50", sagt er nun. "Der Arzt ist auf jeden Fall ein freundlicher Mann." (Lukas Kapeller, 16.5.2021)