Die Gastro sperrt bald wieder auf und sucht Arbeitskräfte.

Erfahrung in der Gastronomie wäre wichtig, aber vor allem schwindelfrei sollte sein, wer in der Seethalerhütte arbeiten möchte. Die Schutzhütte oben am Dachstein liegt auf 2.740 Meter Höhe. Der Pächter am Gipfel heißt Wilfried Schrempf, und er sucht vergeblich eine Aushilfskraft für sein Buffet, um am 21. Mai wieder gut eröffnen zu können. Österreichweit habe er beim AMS inserieren lassen, sagt Schrempf, doch niemand habe sich gemeldet. Diese Geschichte wäre nicht wirklich berichtenswert, hat es nun aber in die Kronen Zeitung geschafft und damit eine laufende Debatte über die Arbeitsmoral von Arbeitslosen nochmals befeuert.

Vor rund einer Woche wurde bekannt, dass der ÖVP-Wirtschaftsbund in einem Positionspapier vorgeschlagen hat, das Arbeitslosengeld umzugestalten. Es soll künftig degressiv ausbezahlt werden. Am Anfang soll es mehr Geld geben als die derzeitigen 55 Prozent vom Netto-Letztgehalt, dann soll es auf 40 Prozent absinken. Die Zumutbarkeitsbeschränkungen sollen zudem verschärft werden, damit Arbeitslose in ganz Österreich bereit sind, Jobs anzunehmen. Und: Für die Notstandshilfe, die derzeit im Grunde unbegrenzt bis zur Pensionierung bezogen werden kann, soll eine zeitliche Begrenzung kommen.

Kommen die Ungarn und Slowaken noch?

Der Druck kommt neben dem Bausektor vor allem aus der Gastronomie und Hotellerie. Der Obmann der Gastro in der Wirtschaftskammer, Mario Pulker, sagt, dass ihm Betriebe aus dem ganzen Land rückmelden, dass sie so wie der Pächter der Seethalerhütte Schwierigkeiten haben, geeignetes Personal zu finden. Obwohl aktuell rund 433.000 Arbeitslose beim AMS gemeldet sind. "Es kann ja nicht sein, dass die Allgemeinheit die Arbeitsunwilligkeit bezahlt", so Pulker.

Solche Beschwerden kommen von Unternehmern regelmäßig. Warum kocht das Thema ausgerechnet jetzt hoch? Eine Erklärung ist, dass der ÖVP-Wirtschaftsbund ein Thema gebraucht hat, um Druck auf die Grünen machen zu können, die strikt gegen eine solche Kürzungspolitik sind. Bei den wirtschaftspolitischen Debatten, Stichwort Klimaschutz, waren es zuletzt die Grünen, die Akzente gesetzt haben. Nun sollte es mal andersrum sein.

Eine andere Erklärung hat mit der Pandemie selbst zu tun. Gastronomie und Hotellerie in Österreich sind von billigen ausländischen Arbeitskräften abhängig, vor allem von Ungarn, Slowaken und Rumänen, die auf Saison kommen. Fast jeder siebente Kellner oder Koch war vor der Pandemie in Spitzenzeiten aus dieser Gruppe, zeigt eine Auswertung des Forschungsinstituts Wifo.

Deutlicher Anstieg der Arbeitslosigkeit durch die Pandemie

Durch Corona ist die Wintersaison ausgefallen. Seit acht Monaten gab es also für die Saisonkräfte keine Arbeit in Österreich. Da in Osteuropa das Arbeitslosengeld niedriger ist, in Ungarn etwa nur etwas mehr als 400 Euro im Monat, fürchten heimische Betriebe, dass ihre Kernmannschaft nicht wiederkommt. Viele der Saisonarbeiter, so die Angst, hätten sich notgedrungen andere Arbeit in der Heimat gesucht. Anekdotisch wird das schon berichtet. Zweiter Punkt: Unternehmer erzählen, dass viele Arbeitslose in Österreich vom AMS umgeschult wurden, also für die Gastro nicht mehr zur Verfügung stehen.

Aber stimmt das alles? Mit Daten belegen lässt sich der letzte Punkt jedenfalls nicht: Auf jede offene Stelle als Koch oder Küchenhilfe, kommen derzeit laut AMS neun Arbeitssuchende. Die große Umschulung ist nicht das Problem.

Die Debatte ist überhaupt von einer Schieflage geprägt. Zunächst einmal ist das Arbeitslosengeld nur ein Faktor, der darüber entscheidet, ob Menschen bereit sind, einen Job anzunehmen. Der zweite ist: der Lohn. Es gibt kein Anrecht auf billige Arbeitskräfte, und Unternehmen steht es frei, höhere Gehälter zu zahlen, um potenzielle Angestellte zu locken. Der erwähnte Pächter am Dachstein bietet laut AMS-Stelleninserat für die Buffetkraft bei Vollzeitbeschäftigung 1540 Euro. Auch wenn "Bereitschaft zur Überzahlung" besteht, ist das relativ wenig Geld für den Dienstort. Der Tourismus zahlt ohnehin keine hohen Löhne: Eine gelernte Kellnerin bekommt in Oberösterreich laut Kollektivvertrag nach zehn Jahren nicht mehr als 1847 Euro brutto.

Wo ist die Lobby?

Die andere Schieflage ist, dass über Anreize vor allem dann diskutiert wird, wenn es Arbeitslose betrifft: Hier rächt sich für die Gruppe, dass sie keine ähnlich einflussreiche Lobby hat wie etwa die Tourismusindustrie und die Gastronomie, mit dem agilen Mario Pulker. Auch viele andere Aspekte der Debatte bleiben außen vor, wenn der Fokus auf die Höhe des Arbeitslosengeldes gerichtet ist. So sind Langzeitarbeitslose vor allem wenn sie älter sind, häufig Diskriminierung ausgesetzt, Unternehmen laden sie seltener zu Vorstellungsgesprächen ein.

Nichtsdestotrotz bleibt die Frage, ob sich das Arbeitslosengeld so umgestalten ließe, dass es für Betroffene und Unternehmen besser wäre. Die kurze Antwort darauf lautet: ja, vermutlich, aber wohl nicht unbedingt so, wie sich das der Wirtschaftsbund vorstellt.

Antworten kommen aus der Wissenschaft. Ein im "American Economic Journal: Applied Economics" erschienenes Papier wird derzeit viel diskutiert. Die Ökonomen Attila Lindner und Balázs Reizer untersuchen darin, wie sich die Einführung eines degressiven Arbeitslosengeldes in Ungarn auswirkte. Wer vor November 2005 arbeitslos wurde, konnte in Ungarn 27o Tage mit dem gleichen Arbeitslosengeld rechnen. Wer es danach wurde, bekam zu Beginn deutlich mehr Geld, danach aber viel weniger. In Summe blieben die Auszahlungen gleich. Dieses "front loading" hat etwas bewirkt, so die Studie. Die Menschen kamen etwas schneller in Arbeit, um nicht unter die Schwelle zu fallen.

Im Schnitt dauerte die Arbeitslosigkeit vor der Reform 239 Tage, danach waren es 225. Das System war auch für den Staat gut, der sich Ausgaben ersparte, weil Menschen früher in Jobs kamen. Doch diese Zahlen zeigen, dass Erwartungen an eine degressive Reform nicht zu hoch sein sollten.

Diskutiert gehört an dieser Stelle noch ein Aspekt. In Österreich folgt auf das Arbeitslosengeld die Notstandshilfe. Im Gegensatz zur Sozialhilfe, müssen Bezieher dieser Leistung ihr Vermögen nicht großteils aufbrauchen, und bei der Höhe der Notstandshilfe wird das Einkommen von Ehepartnern und Kindern nicht berücksichtigt. Sollte die Notstandshilfe, so wie vom Wirtschaftsbund gewünscht, fallen, würde das neue Fragen aufwerfen.

Eine eingebaute Schwelle

Die Studie aus Ungarn untersucht, was geschieht, wenn eine Schwelle beim Arbeitslosengeld eingebaut wird, der Bezug über die Dauer aber gleich bleibt, es keine Verschlechterungen gibt. Das ginge bei der Notstandshilfe nicht: Hier hat jeder Bezieher theoretisch unbegrenzt Anspruch bis zur Pension, der von Fall zu Fall unterschiedlich lang ist.

Die Notstandshilfe abzuschaffen würde große soziale Auswirkungen haben. Als die türkis-blaue Koalition mit der Abschaffung für unter 50-Jährige liebäugelte, untersuchte das Wifo 2018, wie sich das auswirken würde. Jeder dritte Arbeitslose, damals 121.000 Menschen, hätten nur noch Anspruch auf Mindestsicherung gehabt, inklusive 37.000 Menschen mit Behinderung. Für diese Gruppe käme der Vermögenszugriff.

Ob das zu mehr Arbeitsaufnahmen führen würde? Vermutlich. In Deutschland hatte eine ähnliche Reform eine doppelte Wirkung, der Arbeitsmarkt wurde belebt und der Niedriglohnsektor angefacht.

Und es kommt aus der Wissenschaft auch Evidenz, dass ein längeres Arbeitslosengeld sinnvoll sein kann. Zwar ist es prinzipiell so, dass längere Arbeitslosigkeit dazu führt, dass Menschen schwerer einen Job bekommen. Die Ökonomen Arash Nekoei und Andrea Weber haben für Österreich gezeigt, dass Menschen, die neun Wochen länger beziehen, danach Jobs annehmen, die etwas besser bezahlt sind.

Dass Menschen nicht jede Stelle annehmen, macht also auch Sinn. Und was sagt die Wissenschaft: Wie groß ist die Gruppe der Menschen, die gar nichts tun wollen? "Die meisten Menschen haben den Wunsch zu arbeiten. Es gibt natürlich immer jemanden, der arbeitsunwillig ist. Nach denen ein ganzes Arbeitslosenversicherungsgesetz auszurichten macht allerdings keinen Sinn", sagt der Linzer Arbeitsmarktökonom Martin Halla.

Zurück nochmal auf den Gipfel. Angesprochen auf das AMS-Inserat sagt der Pächter der Schutzhütte oben am Dachstein, dass ein Fehler passiert sein müsse: Die 1.540 Euro seien jedenfalls netto, dazu komme auch noch das Trinkgeld. (András Szigetvari, 16.5.20201)