Als am 14. Mai 2021 mitten in den Proben die Uhr 13:27 Uhr zeigte, wurden alle, die in der Ahoy-Arena für den Eurovision Song Contest arbeiten, egal ob Kandidaten, Kameraleute oder Journalisten, gebeten, eine Schweigeminute einzuhalten. Auch die lettische Sängerin Samanta Tina musste kurz warten, bis sie ihre Probe fortsetzen konnte. Gedacht wurde der Opfer des verheerenden Angriffs der NS-Luftwaffe.

Zerstörtes Rotterdam im Krieg.
CC Rijksdienst voor het Cultureel Erfgoed

In nur drei Minuten wurde die Altstadt Rotterdams zerstört, verheerende Brände gaben der Stadt den Rest. Über 814 Menschen verloren ihr Leben. Große Teile der Bevölkerung, besonders jene in den Vierteln im Zentrum und in Kralingen, wurden obdachlos. Die Stadt kapitulierte, die Niederlande kapitulierten, die Königin floh nach London, um eine Exilregierung zu schaffen. Die Niederlande waren verloren. Zumindest vorläufig.

Familiengeschichte

Wenn ich im Pressezentrum genau an diesem Tag zu dieser Zeit für die Schweigeminute aufstehe, dann bewegt das sehr. Selbst in einem Dorf geboren, das von Nazi-Deutschland brutal abgestraft wurde und wo alle Männer des Dorfes in Konzentrationslager gesteckt wurden. Aber vor allem die Erinnerung an meine eigene Rotterdamer Familiengeschichte, meinen 1985 verstorbenen Großvater wird im Geiste wieder lebendig. Er wohnte damals im Stadtteil Feijenoord und erzählte mir oft, wie das war, als die Stadt brannte. Eine tiefe Wunde, die ihn immer begleitete.

Überhaupt erzählte er oft von dieser Zeit, als die "Moffen", wie er die Deutschen immer noch nannte, die Bevölkerung terrorisierte. Als die nationalsozialistische Besatzungsmacht Niederländer aufrief und befahl, auf Arbeitseinsatz ins Ruhrgebiet zu gehen – die deutschen Fabriksarbeiter waren alle an der Front und das Regime brauchte dringend Arbeiter für die Rüstungsindustrie –, versteckte sich mein Großvater immer beim Schweizer Nachbar, so wie viele andere Männer aus dem Viertel. Den ließen die Nazis in Ruhe. Man hörte auch Gerüchte in der Straße und ahnte, wo jemand untergetaucht war oder versteckt wurde. Verraten wurde niemand. Die dort lebende Arbeiterschaft war politisch links eingestellt.

In dieser zerstörten Stadt, mitten im Krieg, wurde meine Mutter 1943 geboren. Auch sie kann sich noch an die Trümmerhaufen erinnern. Als Kind ist sie noch mit Freunden auf Schatzsuche gegangen und hat geschaut, ob in den Ruinen der Stadt noch etwas Interessantes zu finden ist.

Das Depot des Boijmans-van-Beuningen-Museum. Atemberaubende moderne Architektur prägt Rotterdam.
Iris van den Broek

Neuerfindung

Die Zerstörungen zwangen Rotterdam, sich nach dem Zweiten Weltkrieg neu zu erfinden. Die historische Altstadt war verschwunden. Schon schnell war die Stadt an der Maas-Rhein-Mündung wieder wichtige Warendrehscheibe und kurz nach dem Krieg wieder der größte und bedeutendste Hafen Europas. Der europäische Einigungsprozess beschleunigte diesen Prozess.

Besonders beeindruckte Rotterdam aber, als die Stadt ab den Achtzigern mit atemberaubender Architektur und Wolkenkratzern neue Maßstäbe setzte. Die Erasmusbrücke oder die neue Markthalle sind Wahrzeichen der Stadt geworden. Derzeit sorgt der Neubau des Depots des Boijmans-van-Beuningen-Museums international für Aufsehen. Die Städteplaner sind findig und kreativ. Sogar vertikale Hochhäuser mit Landwirtschaft für die Stadt werden geplant. Die kleinen Häuser in der Gronigerstraat, in denen meine Mutter mit Großeltern lebten, die gibt es nicht mehr. Sie überlebten zwar das Bombardement, nicht aber die moderne Stadtplanung.

Die Hafenstadt war immer vor allem Industrie- und Arbeiterstadt. "In Rotterdam verdient man das Geld, das man in Amsterdam ausgibt" ist eine häufig gehörte Redewendung. Die Stadt hat aufgrund ihrer starken Industrie einen hohen Anteil an Bewohner aus Marokko, Türkei, Kap Verde und anderen Ländern.

Bürgermeister ist seit 2008 Ahmed Aboutaleb, der neben der niederländischen auch die marokkanische Staatsbürgerschaft besitzt. Er war der erste Bürgermeister der Niederlande mit marokkanischem Background und der erste muslimische Bürgermeister Westeuropas. Der Sozialdemokrat fürchtet sich aber nicht, in Konflikt mit islamistischen Vereinen oder dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zu gehen. Zudem hat er mitgeholfen, die Stadt auch zu einer Kulturstadt umzuwandeln. Zahlreiche Museen, Theater, Musik und Galerien erweitern das Angebot der Stadt.

Eurovision mit City Dressing

Es war naheliegend, dass der niederländische Sender der Hafenstadt, die sich neu erfinden will, den Zuschlag gab, um den Eurovision Song Contest auszutragen. Amsterdam bewarb sich nur halbherzig, litt die Stadt vor der Pandemie doch ohnehin schon unter chronischem Overtourism. Am Ende war Maastricht Hauptkonkurrent. Rotterdam eröffnete den Niederlanden die Möglichkeit, sich von einer Seite jenseits der Windmühlen-, Coffeeshop- und Tulpenklischees zu präsentieren. Als moderne Metropole, die Europas Warenverkehr kontrolliert und kulturell und architektonisch neue Wege zu gehen wagt.

City Dressing von Studio Vollaerts.
VollaertsZwart

Es ist für die Rotterdamer natürlich bedauerlich, dass nicht tausende Fans anreisen können, um den Eurovision Song Contest, der vom 18. bis 22. Mai stattfindet, mitzuerleben. Man hat sich bemüht, den ESC in die Stadt zu tragen und lustvoll und innovativ zu kommunizieren. "City Dressing" nennt sich das. In der ganzen Stadt wurden vom Designbüro Studio VollaersZwart etwa Sing-A-Long-Motive mit berühmten Song-Contest-Refrains verteilt.

In Schaufenstern, auf öffentlichen Gebäuden, auf U-Bahn-Brücken, über Stufen oder im Straßenbelag findet man die bunten Schriftzüge, in denen etwa steht: "Waterloo couldn’t escape if I wanna do", "I will rise like a Phoenix" oder "Ein bisschen Frieden, ein bisschen Liebe". Auf der berühmten Erasmusbrücke findet man den Schriftzug "Merci Merci Merci für die Stunden Chérie". Künstler haben singende Rotterdamer festgehalten und andere auf Mauerflächen den niederländischen Kandidaten Jeangu Macrooy verewigt. Und seine Geschichte aus Surinam, voller Kolonialismus und Sklaverei.

Nicht nur Rotterdam, auch die europäischen Rundfunkanstalten mussten sich nach dem Krieg neu erfinden. Sie wollten zeigen, dass man es technisch schaffte, länderübergreifend eine TV-Sendung auf die Beine zu stellen. Sie mussten Neues wagen, nie ausprobierte Techniken versuchen und neue Kooperationen eingehen – auch zwischen einstigen Feinden. So entstand der Eurovision Song Contest 1956. Und so hat der Bewerb sehr viel mit der Stadt gemein. Sie passen zusammen. (Marco Schreuder, 15.5.2021)