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Israels Artillerie feuert Richtung Gaza.

Foto: AP / Yonatan Sindel

Auch in der Nacht auf Sonntag wurde vom Gazastreifen wieder Raketen auf Israel gefeuert. Im Bild: Das israelische Raketenabwehrsystem Iron Dome fängt am Sonntag Raketen über Tel Aviv ab.

Foto: AFP / AHMAD GHARABLI

Tel Aviv/Gaza – Trotz verstärkter internationaler Bemühungen um eine Feuerpause geht die Gewalt in Israel und dem Gazastreifen unvermindert weiter: Ein unbekannter Täter rammte mehrere Menschen mit einem Auto in dem Protestviertel Sheikh Jarrah in Ostjerusalem. Dabei dürften mindestens vier Polizisten verletzt worden seien, Rettungskräfte berichteten von insgesamt sieben Verletzten. Der Angreifer wurde erschossen, teilte die Polizei am Sonntagnachmittag mit. Weitere Hintergründe waren zunächst unklar.

Die israelische Armee bombardierte am Sonntag das Haus des Chefs des politischen Flügels der radikalislamistischen Hamas im Gazastreifen, Yahya al-Sinwar. Ob Sinwar bei dem Angriff getötet wurde, ist unklar. Insgesamt sollen am Sonntag im Gazastreifen 40 Menschen ums Leben gekommen sein, darunter acht Kinder. Es war die bisher schwerste Angriffsserie im aktuellen Konflikt – Israel hat bisher mehr als 1000 Luftangriffe durchgeführt.

In der Stadt Gaza wurden nach Augenzeugenberichten fünf Häuser zerstört. Man befürchte viele Tote und Verschüttete unter den Trümmern. Laut Angaben der Organisation "Ärzte ohne Grenzen" wurde auch eine Klinik zerstört, in der die NGO tätig war.

Raketenbeschuss nahm zu

Die Palästinenser sprechen nun von mindestens 188 Toten seit vergangenen Montag, darunter etliche Kinder und Frauen. Zugleich nahm auch der Raketenbeschuss auf Israel an Intensität zu. Rund 2.800 Geschosse wurden laut der israelischen Armee bis Sonntag abgefeuert, es gibt insgesamt zehn Tote, darunter ein Kind, acht weitere Zivilisten und ein Soldat.

Militante Palästinenser hatten in der Nacht auf Sonntag den Großraum Tel Aviv sowie weitere israelische Ortschaften erneut massiv mit Raketen beschossen. In Tel Aviv und im südlichen Beersheba heulten über Nacht Warnsirenen. Zehn Personen seien auf der Flucht in die Bunker verletzt worden, berichteten örtliche Mediziner.

Wieder Raketen über Tel Aviv

Israels Militär hatte der Führungsriege der im Gazastreifen herrschenden Palästinenserorganisation Hamas zuvor mit gezielter Tötung gedroht. Am Samstagabend sagte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, dass der Militäreinsatz "so lange wie nötig" fortgesetzt werde. Man müsse zunächst die Hamas-Infrastruktur zerstören.

Israels Luftwaffe hatte am Samstag bereits das Haus eines anderen ranghohen Führers der Hamas bombardiert. Das Haus von Khalil al-Haya, Vize-Chef des Hamas-Politbüros, habe als "Terror-Infrastruktur" gedient. Nach palästinensischen Angaben hielt Al-Haya sich aber zur Zeit des Angriffs nicht in dem Haus auf.

Die Armee hatte zudem ein 14-stöckiges Hochhaus im Gazastreifen, in dem Medienunternehmen wie Associated Press (AP) ihre Büros hatten, zerstört. Berichten zufolge wurden die Bewohner zuvor telefonisch aufgefordert, das Gebäude zu verlassen. Die AP reagierte entsetzt. "Das ist eine unglaublich beunruhigende Entwicklung", teilte AP-Präsident Gary Pruitt am Samstag in New York mit. "Wir sind nur knapp einem schrecklichen Verlust von Menschenleben entgangen." Ein Dutzend AP-Journalisten und freie Mitarbeiter sei rechtzeitig in Sicherheit gebracht worden.

Kritik auch aus Riad

Die UNO, die USA und die EU riefen angesichts der steigenden Opferzahlen dringend zur Deeskalation auf. Am Sonntag tagte der UN-Sicherheitsrat zum Nahost-Konflikt. Bei den vorherigen Beratungen hatte es keine Einigung auf eine gemeinsame Erklärung gegeben. Dies lag Teilnehmern zufolge an den USA, die eine Verurteilung ihres Verbündeten Israel ablehnten. Die EU kommt am Dienstag zu einer Krisensitzung zusammen. Bei der Videokonferenz werde es darum gehen, wie "die EU am besten zu einem Ende der derzeitigen Gewalt beitragen" könne, teilte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell auf Twitter mit. Die Zahl der zivilen Opfer durch die gegenseitigen Angriffe bezeichnete er als "inakzeptabel".

UN-Generalsekretär Antonio Guterres forderte zum Auftakt des Sicherheitsrats ein sofortiges Ende der Kämpfe zwischen Israel und radikal-islamischen Palästinensern im Gazastreifen. Die UN stehe mit allen Beteiligten in Kontakt mit dem Ziel einer sofortigen Waffenruhe, sagte er.

Erstmals kritisierte auch Saudi-Arabien, das zuletzt auf eine Annäherung mehrerer Arabischer Staaten mit Israel gedrängt hatte, die Regierung in Jerusalem deutlich. Israels missachte die Rechte der Palästinenser massiv, sagte Außenminister Faisal bin Farhan al Saud. Auch kritisierte er die Delogierung mehrerer palästinensischer Familien aus Häusern in Sheikh Jarrah Ostjerusalem als "Vertreibung". Der Fall hatte vor rund einer Woche jene Proteste und Ausschreitungen ausgelöst, die später in die aktuellen Eskalation mündeten. Auch die Organisation für Islamische Zusammenarbeit OIC verurteilte "auf das Schärfste" die "brutale Aggression gegen das palästinensische Volk".

Ägypten hat seinen Grenzübergang Rafah zum Gazastreifen wegen des dortigen Konflikts einen Tag eher für den Personenverkehr geöffnet als geplant. Berichten zufolge unternahmen ägyptische Behörden den "außergewöhnlichen" Schritt, um verletzte Palästinenser zur Behandlung in ägyptische Krankenhäuser zu lassen. Dabei war von einer "Geste der Solidarität" mit den Palästinensern die Rede. Bisher seien aber keine Verletzten der israelischen Bombardements im Gazastreifen eingetroffen, hieß es aus der palästinensischen Botschaft. Es seien auch keine ägyptischen Krankenwagen nach Gaza gefahren, um Verletzte aufzunehmen.

Ziel der Feuerpause

Bislang blieben internationale Vermittlungsversuche erfolglos. Wie die US-Botschaft in Israel am Freitagabend mitteilte, landete der Spitzendiplomat Hady Amr auf dem Flughafen Ben Gurion bei Tel Aviv. US-Außenminister Antony Blinken hatte ihn gebeten, Voraussetzungen für einen nachhaltigen Waffenstillstand ausloten.

Noch für Sonntag ist eine Sitzung des israelischen Sicherheitskabinetts geplant. Hamas-Chef Ismail Haniyeh sagte vor einer Menschenmenge in Katars Hauptstadt Doha, die Schlacht, der Krieg und der Aufstand trügen den Namen "Jerusalem". Dort hatten vor gut einer Woche im Ostteil an der Al-Aksa-Moschee heftige Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und israelischen Sicherheitskräften begonnen.

Die Hamas forderte einen Abzug israelischer Sicherheitskräfte von dort und begann nach Ablauf einer Frist mit den Raketenangriffen. Verschärft wurden die Spannungen durch Pläne, Häuser palästinensischer Familien in Sheikh Jarrah zu räumen. Das Land wird von jüdischen Siedlern beansprucht. Laut humanitärem Völkerrecht sind in von Israel besetzten Gebieten, wie Ostjerusalem und dem Westjordanland, weder Zwangsräumungen noch Siedlungsbau zulässig.

Demos und Ausschreitungen

In mehreren Städten Europas sind am Samstag Tausende Menschen aus Solidarität mit den Palästinensern friedlich auf die Straßen gegangen, auch Unterstützung für Israel gab es. In Berlin kam es zu Ausschreitungen: Propalästinensische Demonstranten schlugen auf Polizeibeamte ein und bewarfen sie mit Steinen und Flaschen. Auch Feuerwerkskörper wurden geschleudert. Die Polizei setzte Pfefferspray ein. Auch in Mannheim wurden Polizisten nach Auflösung einer propalästinensischen Kundgebung mit Steinen beworfen.

Vier Beamte seien leicht verletzt, sagte ein Polizeisprecher am Samstagabend. Zudem habe ein Mann versucht, eine israelische Flagge anzuzünden. Das hätten die Polizisten unterbunden und den Mann festgenommen. Schon in den Tagen zuvor hatte es in mehreren Städten antisemitische und anti-israelische Demonstrationen gegeben, bei denen auch Israel-Flaggen angezündet wurden. Der Zentralrat der Juden in Deutschland fühlt sich durch die zahlreichenanti-israelischen Demonstrationen "an die dunkelsten Zeiten deutscher Geschichte" erinnert. Zentralrats-Präsident Josef Schuster warnte vor einer Welle des Antisemitismus.

Der israelische Botschafter Jeremy Issacharoff plädierte für ein gemeinsames Eintreten von Muslimen und Juden gegen die zunehmende Polarisierung in Deutschland. "Die jüdische und die muslimische Gemeinschaft können viel gemeinsam haben, und an einigen Orten in Deutschland bestehen enge Kontakte zwischen diesen Gemeinschaften", sagte Issacharoff der "Welt am Sonntag". Diese Verbundenheit könne viel bewirken. "Das kann auch eine Basis sein, dem aktuell wachsenden Hass gemeinsam entgegenzutreten."

In Berlin demonstrierten rund 3.500 Menschen aus Solidarität mit den Palästinensern.
Foto: AFP / STEFANIE LOOS

In Wien gab es mehrere Kundgebungen, sowohl propalästinensische als auch gegen Antisemitismus. Die Polizei fuhr mit Wasserwerfern vor der Staatsoper auf. Eine Kundgebung zum Thema "Gegen Antisemitismus" wurde im Bereich des Herbert-von-Karajan-Platzes abgehalten. Teilnehmer einer spontanen Gegenkundgebung versuchten die Versammlung zu stören. "Aufgrund der Stimmung und des Gehabes der Teilnehmer der Gegendemonstration war von einer hohen Gewaltbereitschaft auszugehen", berichtete die Polizei. Auch gab es Berichte über antisemitische Parolen. Nach Eindringen in den Schutzbereich der angezeigten Veranstaltung wurde diese aufgelöst und ein unmittelbarer Zusammenstoß der beiden Gruppen verhindert. (APA, Reuters, red, 16.5.2021)