In Haifa, wo sonst Koexistenz angesagt ist, kommt es in den vergangenen Tagen immer öfter auch zu Ausschreitungen. Im Bild ein Protest Ende vergangener Woche.

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Hochzeit oder Attentat? Ofer blickt sich um. Die Schüsse kommen von unten, aus Wadi Nisnas, einem alten arabischen Viertel in Haifa. Hier gibt es die besten Falafel, die besten Fladenbrote. Und zu Hochzeiten immer wieder auch Schusssalven. Den Bund der Ehe per Knall zu besiegeln, ist normal, das weiß auch Ofer. Aber das sind nun einmal keine normalen Zeiten.

Ofers Freund Uri führt eine kleine Kaffeerösterei in Haifas Altstadt, das Geschäft geht gut, Juden und Araber kaufen hier ein. Uri ist Jude, zwei seiner Angestellten sind Araber. Die beiden kommen seit ein paar Tagen nicht mehr in die Arbeit. "Sie haben Angst" sagt Uri. Angst hat auch er.

Jüdisch-arabische Kooperationen sind den Angriffen der Mobs, die derzeit in vielen israelischen Städten wüten, besonders stark ausgesetzt. Arabische Gangs und jüdisch-rechtsextreme Mobs halten Israel im Würgegriff. Ein friedliches Zusammenleben ist der Feind, den sie bekämpfen. Dafür gehen sie weit. Am Freitag wurde ein Haus im arabisch bewohnten Jaffa von Rechtsextremen in Brand gesetzt. Ein Zwölfjähriger erlitt schwere Verbrennungen, sein Zustand ist immer noch kritisch. Ein Bild des verwundeten Buben fand in sozialen Medien rasante Verbreitung.

"Souveränität in Haifa"

"Das sind dieselben Leute, die gestern das Kind verbrannt haben", sagt Muna. Es ist Samstag Abend, die junge Palästinenserin aus Haifa steht am Straßenrand und beobachtet die Demonstration der Rechtsextremen, die in ein paar Hundert Metern Entfernung stattfindet. Hier, unweit der berühmten Bahai-Gärten, tummeln sich in normalen Zeiten die Touristen. Jetzt sind es die Uniformierten, die das Straßenbild dominieren. "Sie beschützen die Faschisten", glaubt Muna.

Die Rechtsextremen fordern "Souveränität in Haifa". Die Stadt müsse jüdisch bleiben, sagen sie – auch wenn sie das nie ausschließlich war. Immer war es ein Zusammenleben, nicht immer friedlich, oft mehr ein Nebeneinander als ein Miteinander – aber im Vergleich zu anderen Städten ein Musterbeispiel der Koexistenz. In diesen Tagen wird auch Haifa zum Schlachtfeld für die, die den exklusiven Besitzanspruch stellen. Es sind Minderheiten, aber sie sind laut und aggressiv – und nehmen die Mehrheit in Geiselhaft.

Ein Bier ist zu gefährlich

Für Muna ist heute ein besonderer Tag. Am Nakba-Tag, das Wort bedeutet "Katastrophe", gedenken Palästinenser in und außerhalb Israels der Vertreibung ihrer Vorfahren im Jahr 1948. Zwar stimmten viele Palästinenser der Umsiedlung zu, aber die Frage, wie frei sie in dieser Entscheidung waren, wird vor allem von der jungen Generation wieder öfter gestellt. In diesem Jahr findet der Nakba-Tag inmitten der Gaza-Eskalation und der wütenden Proteste in Israel und der Westbank statt.

In Wadi Nisnas stehen rund hundert Demonstranten, überwiegend junge Frauen, und halten Tafeln mit Aufschriften wie "Freiheit für Gaza" und "Freiheit für Sheikh Jarrah" in die Höhe. Knapp eine Stunde dauert die Demonstration. Die Angst vor Angriffen der Rechtsradikalen geht um. "Ich würde heute gern noch irgendwo ein Bier trinken gehen", sagt die 34-jährige Nidal, "aber es ist mit zur gefährlich".

"Pogrome und Terroristen"

Premier Benjamin Netanjahu verurteilte Samstagabend die Gewalt auf den Straßen. Die arabischen Attacken seien "Pogrome", die Angreifer seien "Terroristen" und auch als solche zu behandeln. Man werde aber auch nicht zulassen, dass "Juden das Gesetz in ihre Hand nehmen" sagte er zudem in der englischen Version seiner Rede um elf Uhr abends, nach einem Telefonat mit US-Präsident Joe Biden.

Das Weiße Haus drückte seine Besorgnis über das Bombardement eines Hochhauses in Gaza aus, bei dem auch die Redaktionen des TV-Senders Al Jazeera und der Nachrichtenagentur AP zerstört worden waren. Der Schutz unabhängiger Medien sei "eine vorrangige Pflicht", mahnte Jen Psaki, Sprecherin des Weißen Hauses. Israel rechtfertigt sich mit dem Beschuss eines Hamas-Spionagebüros, das sich im Gebäude einquartiert hatte. Die Agentur AP kritisierte den Angriff: Journalisten seien nur knapp dem Tod entkommen. Israel hatte die Redaktionen kurz vor dem Angriff gewarnt und aufgefordert, das Gebäude zu verlassen.

Es ist die zweite Kriegshandlung Israels, die das Verhältnis zur Auslandspresse trübt. Wenige Tage zuvor hatte eine Falschmeldung über eine Bodenoffensive in Gaza für Aufregung gesorgt. Ein Armeesprecher hatte eine solche Offensive verlautbart, alle Medien hatten darüber berichtet, so auch der STANDARD. Später hieß es, das sei nur "Misskommunikation" gewesen. Mindestens ebenso wahrscheinlich ist, dass die Meldung gezielt gestreut wurde, um Hamas-Führer in jenes Tunnelnetzwerk zu locken, das bald darauf unter schweren Beschuss genommen wurde. Die Kritik, Israels Armee habe die Presse als Mittel der Kriegsführung benutzt, steht im Raum, Israel weist sie zurück.

Fortschritte gegen die Hamas

Der Großraum Tel Aviv war in der Nacht auf Sonntag erneut schwerem Raketenbeschuss ausgesetzt. Am Samstag hatte ein Raketeneinschlag in einem Vorort Tel Avivs ein Todesopfer gefordert. Der Einschlag trug sich unweit der Österreichischen Botschaft Tel Aviv zu. "Zum Glück sind wir alle in Sicherheit", twitterte Botschafterin Hannah Liko, "das muss sofort aufhören!"

Indes mehren sich die Anzeichen, dass eine Waffenruhe tatsächlich in Sicht sein könnte. Israelische Quellen halten eine Einigung im Laufe dieser Woche für möglich. Die israelische Armee habe bei der Zerstörung militärischer Infrastruktur in Gaza bereits beachtliche Fortschritte erzielt.

Die Front im Inneren, die brennenden Synagogen und Lynchattacken, könnte das Land aber noch für längere Zeit beschäftigen. Ofer atmet indes auf: die Schüsse im Araberviertel sind vorbei. Es ist nur eine Hochzeitsfeier. "Mazal tov", sagt Ofer – Glückwunsch. (Maria Sterkl aus Haifa, 16.5.2021)