Als die DDR-Bürger auf die Segnungen des Marktes hofften: die berühmte Versammlung auf dem Berliner Alexanderplatz, 4.11.1989.

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Pünktlich zum Abschluss der Ära Merkel scheint es geboten, ein zweites, mindestens ebenso folgenreiches Kapitel Gegenwartsgeschichte für beendigt zu erklären. Erübrigt hat sich, so meint es wenigstens der Soziologe Wolfgang Engler, die Vision einer "offenen Gesellschaft". Gemeint ist die schöne, neue, auf Fairness gegründete Mittelstandswelt, wie sie Karl R. Popper im neuseeländischen Exil während der Kriegsjahre skizziert hat. Ein damals unentbehrlicher Beitrag, um die Überlegenheit der freien Marktwirtschaft gegenüber jeder Form gemeineigentümlicher Ökonomie zu beweisen.

Endlich konnte dem Staatssozialismus, der allgegenwärtigen kommunistischen Gefahr, nach 1945 eine lange Nase gedreht werden. Poppers Plädoyer für Rechtsstaatlichkeit, für die Verrechtlichung von Eigentumsverhältnissen und für den Wettbewerb der Individuen untereinander machte umgehend Furore. Das suggestive Schlagwort von der "offenen Gesellschaft" blieb hochwirksam bis zum großen Epochenbruch von 1989. Auch danach schmückte es die Leitartikel aller in der Wolle gefärbten Neoliberalen.

Gemeint war der faire Wettstreit freier Marktteilnehmer in einer eigentümerfreundlichen Gesellschaft. Und doch: Das Hohelied auf die ungehinderte Entfaltung des Individuums ließ sich nicht ohne Zusatz goutieren. Von solchen Hoffnungen wurden zum Beispiel auch die Hunderttausenden umgetrieben, die sich am 4. November 1989 am Berliner Alexanderplatz versammelt hatten. Demokratie, Rechtsstaat, Reise-, Pressefreiheit: Alle nutzbringenden Errungenschaften der "offenen Gesellschaft" schwebten über den Köpfen änderungswilliger DDR-Bürger. Den Gedanken an den Kapitalismus verbanden die meisten mit Lohnanstieg und Anhebung des Lebensstandards.

Zur vollständigen Entfaltung des Marktes gehörte einst wie jetzt die schrittweise Implementierung sozialer Sicherungssysteme. Zum Glück des Tüchtigen verhält sich die Verhinderung von Unglück komplementär. Die Minderung kollektiver Daseinsrisiken ist unabdingbar. Nur durch sie wird Zusammenhalt hergestellt, solidarisches Handeln eingeübt, kurz: Gemeinnützigkeit initiiert. Erst durch eine wirksame Sicherung der Lebensumstände gelingt es, der Masse der Lohnabhängigen Vertrauen einzuimpfen.

Vertrauen auf Vorsorge

Nur so gerät auch die populistische Verlockung in den Blick. Wird das Vertrauen in eine vernünftige Daseinsvorsorge enttäuscht, folgen die Angehörigen der abgehängten Mittelschichten – die Langsamen, Non-Digitalen, Immobilen – umso bereitwilliger der Verlockung durch Populisten und Pöbelherren. Das Lob der "Rentabilität" ist Gift für den Zusammenhalt.

Es scheint insofern notwendig, die gleichsam ehernen Grenzen der offenen Gesellschaft ebenso offen und unsentimental zu benennen. Eine entsprechende Verlustanzeige hat jetzt Wolfgang Engler (69), lange Jahre Rektor der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" in Berlin, aufgesetzt. Sein Buch "Die offene Gesellschaft und ihre Grenzen" enthält die von einer eigentümlich kalten Wut geprägten Gegenworte zur digitalen Wachstumseuphorie.

Es ermüdet da, wo man zum geschätzt hunderttausendsten Mal die Geschichte der neoliberalen Revolution durch Margaret Thatcher und Co. nacherzählt bekommt.

Als erfrischend erweist sich hingegen Englers Philippika dort, wo er die blinden Flecken der Gegenwartssoziologie unbarmherzig benennt. Sein unsichtbarer Antipode ist Andreas Reckwitz, dessen Rede von der "Gesellschaft der Singularitäten" er unbarmherzig auseinandernimmt. Auch wenn die Angehörigen der neuen Mittelschichten prachtvolle, kognitive Arbeit leisten. Der Aufstieg nach oben, in die globale Oberklasse, bleibt ihnen, trotz Anlagerung materieller Reserven, für immer verwehrt.

Container ohne Ausweg

Die Gesellschaft bildet im neoliberalen Kapitalismus der vergangenen ein, zwei Dekaden einen Container. Die soziale Dynamik beschränkt sich zusehends auf Positionsverschiebungen, die sich innerhalb enger Grenzen vollziehen. Doch weil die Aufstiegskanäle in die Chefetagen verschlossen sind, konzentrieren sich die neuen Mittelschichten umso verbissener auf ihre Abgrenzung nach unten. Hier greift das Konzept der "Singularisierung": Man monopolisiert seine kleinen Errungenschaften, indem man auf kulturelle Ressourcen zurückgreift. Man kauft sich die schönen Sneakers, in deren Plastiksohlen teuer bezahlte "Wissensarbeit" steckt. Doch spätestens mit dem Umzug in eine neue Stadt fließen die zur Pufferung gedachten Mittel spurlos ab – und gehen auf in die Deckung horrender Mietkosten.

Die Verwandlung der offenen in eine abstrakte Gesellschaft ist mit ruinösen psychosozialen Verlusten erkauft. Allein für diesen gar nicht oft genug zu wiederholenden Hinweis gebührt Engler Dank. Allzu oft entfaltet sich die gesellschaftliche Dynamik nur noch vertikal abwärts. Die Abschottung funktioniert zuverlässig: von Oben zur Mitte, von der Mitte zu Unten, von Unten zu Außen.

Wie leicht fällt es Angehörigen der Mittelschicht dagegen, über verstockte Trump-Wähler die Nase zu rümpfen. Oder über Ex-Bürger der DDR, die sich in Rufweite der ostzonalen Abraumhalden alleingelassen und vernachlässigt fühlen. Aber wurden nicht sogar die Abstandsregeln in der Corona-Pandemie sachwidrig unter dem Marker "soziale Distanzierung" (statt "physische Distanzierung") eingebürgert? (Ronald Pohl, 17.5.2021)