Raimund Hoghe bei seiner Performance "if i die, leave the balcony open".

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Eine Erschütterung durchzieht die zeitgenössische Tanzszene Europas, von Deutschland über Belgien und Frankreich bis nach Österreich. Der einzigartige, unersetzliche Choreograf, Performer und Autor Raimund Hoghe ist tot. Er wurde vergangenen Freitag kurz nach seinem 72. Geburtstag überraschend aus dem Leben gerissen, noch bevor er sein jüngstes Stück "Traces" zeigen konnte. Die Uraufführung war bereits für Anfang Dezember 2020 geplant, musste damals aber pandemiebedingt verschoben werden.

Mit Hoghes Ableben ist sein gesamtes Werk unwiederbringlich verloren, denn der Künstler war in so gut wie allen seinen Stücken selbst live auf der Bühne. Seine besondere Erscheinung mit dem charakteristischen verkrümmten Rückgrat und dem unvergleichlichen Charisma seiner Bühnenpräsenz kann durch keinen anderen Körper substituiert werden. Was bleibt, sind lediglich Videoaufnahmen, Erinnerungen und schriftliche Zeugnisse.

Wirtschaftliche Interessen

Die letzte Botschaft, die Raimund Hoghe hinterlassen hat, ist also die von der Unersetzlichkeit jedes einzelnen Menschen. Ein Hinweis, auf den er sicherlich Wert gelegt hätte in einer Zeit, die gezeigt hat, wie gnadenlos dort und da wirtschaftliche Interessen gegen Menschenleben aufgerechnet werden. Denn sein Werk war von großem politischem Engagement getragen.

In seinem Denken und in seiner Arbeit war dieser Künstler seiner Gesellschaft und dem, was heute nivellierend und kommerziell "Kulturwelt" heißt, weit voraus. Er wusste das, hat damit aber nie aufgetrumpft, sondern dieses Wissen vielmehr mit aller Kraft dafür eingesetzt, seinem Publikum nahezubringen, dass Menschsein als solches nicht normiert werden darf. Als sein künstlerisches Credo hatte er Pier Paolo Pasolinis Diktum von der Notwendigkeit, "den Körper in den Kampf zu werfen" gewählt.

Kein Aktivist

Trotzdem war Raimund Hoghe kein Aktivist, der seine Kunst für ideologische Propaganda missbrauchte. Dafür war er zu intelligent, zu weitblickend, zu begabt und zu poetisch. Im Oktober vergangenen Jahres wurde er – sehr spät, aber eben doch – mit dem renommierten Deutschen Tanzpreis ausgezeichnet. Das war dem 1949 in Wuppertal geborenen, hochsensiblen Künstler sehr wichtig, denn er wusste, dass diese Welt seine in vielen Aspekten widerständige Kunst braucht.

Was allgemein nicht so bekannt ist: Hoghe hatte sich vor seiner Künstlerkarriere bereits einen exzellenten Ruf als Autor und Journalist erworben. Auch später publizierte er immer wieder Texte und Bücher und hat unter dem Titel "Lebensträume" auch fürs Fernsehen Portraits von ganz normalen Menschen gedreht.

NS-Terror und Neonazismus

Ab 1980 arbeitete er ein Jahrzehnt lang als Dramaturg mit Pina Bausch bei deren Tanztheater Wuppertal. Erst Ende der Achtzigerjahre brachte er seine eigenen Stücke auf die Bühne. Ein erster großer Erfolg wurde sein Statement "Meinwärts" (1994) gegen den NS-Terror und Neonazismus, danach produzierte er Arbeiten wie "Chambre séparée" (1997), "Lettere amorose" (1999), "Bolero-Variationen" (2007), "La Valse" (2016) und zuletzt 2019 "Postcards from Vietnam".

Allesamt Stücke, die ihm nicht nur Fans, sondern auch Gegner einbrachten. Weniger aus dem rechtsradikalen Eck, sondern vor allem in kulturliberalen Kreisen, die Hoghes teils an japanischer Ästhetik orientierten Minimalismus, für den er sich auch viel Bühnenzeit nahm, nicht ertragen wollten. Tatsächlich ist sein gesamtes Werk ein einziger Widerspruch gegen die Herrschaft des Schrillen, Oberflächlichen und Verlogenen gewesen, und als solcher ein Gegenentwurf zur "Gesellschaft des Spektakels" mit ihrer konservativen Auffassung von Ästhetik und ihrem blendenden "Kultur"-Kommerz.

Kämpfer für Toleranz

Jetzt hat Raimund Hoghe die Bühne verlassen und mit ihm ein Kämpfer für Toleranz, historischen und künstlerischen Weitblick und einer, der sein Film-Selbstportait 1998 souverän "Der Buckel" nannte. Zudem ließ ihn seine Homosexualität stets sensibel gegenüber jeglicher Unterdrückung nichtnormativer Geschlechterorientierung sein.

Aber nie, ohne Ausnahme, hat er sich als Opfer stilisiert – weder auf der Bühne noch in seinen Texten oder im Gespräch. In Wien hat Hoghe seine auch für den Bereich der inklusiven Performance beispielgebenden Werke wiederholt vor allem bei Impulstanz – zuletzt 2017 im Akademietheater – und im Tanzquartier gezeigt. (Helmut Ploebst, 17.5.2021)