Der Schatten eines Kreuzes über einem frischen Grab in Manaus/Brasilien. Die Millionenstadt und das Land in Südamerika gehört zu jenen Orten, die am schwersten von der Pandemie getroffen wurden.

AFP / APA / MICHAEL DANTAS

Die offiziellen Zahlen sind schlimm genug: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht davon aus, dass die Sars-CoV-2-Pandemie bis jetzt rund 3,3 Millionen Tote gefordert hat, die durch eine Infektion mit dem Virus gestorben sind. Doch das sind nur die Zahlen, die von den Ländern offiziell gemeldet wurden. Da es in vielen Staaten signifikante Lücken bei der Erfassung der Todesfälle und vor allem auch bei den Corona-Tests gibt, dürfte die tatsächliche Schreckensbilanz weitaus höher ausfallen.

Am Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME) der Universität Washington in Seattle bemüht man sich, insbesondere auf Basis von Zahlen zur Übersterblichkeit, die "echten" Todeszahlen der Pandemie zu eruieren. Der jüngste Zwischenbericht, der letzten Donnerstag aktualisiert wurde, schätzt die Zahl der weltweiten Sars-CoV-2-Toten bis Anfang Mai auf rund sieben Millionen und liefert einige zum Teil überraschende Länderdaten.

So unterscheiden sich laut den Forschern um IHME-Direktor Christopher Murray im Fall von Russland die offiziellen Angaben (laut WHO bzw. Russland: rund 112.000) besonders stark von der Schätzung des IHME, das auf rund 608.600 Tote kommt. Für die USA ermittelten die Forscher rund 912.300 Tote, während die WHO rund 578.600 angibt. Im Fall von Indien gehen die Wissenschafter davon aus, dass die Zahl der Toten mit rund 654.400 fast dreimal so hoch ist wie offiziell erfasst (230.000).

Die am härtesten betroffenen Länder

Aufschlussreich sind die Berechnungen aber auch, wenn es um die Länder geht, die in Relation zur Bevölkerungsgröße besonders stark betroffen sind: Diese Liste führt Aserbaidschan mit 6.727 Toten pro eine Million (offiziell: 436 pro eine Million) vor Bosnien-Herzegowina (6.011 statt offiziell 2.683) und Bulgarien an (5.599 statt 2.445). In einem Ranking mit offiziellen Zahlen führt übrigens Ungarn (mit aktuell 3.031 Toten) vor Tschechien (mit 2.789); das IHME kommt zum Vergleich für Ungarn auf 3.974, für Tschechien auf 3.911 Tote pro eine Million Einwohner.

Zahlen der Covid-19-Toten pro 100.000 Einwohner nach Ländern. In Russland, Mexiko und Peru sowie einigen mittel- und südosteuropäischen Ländern ist diese Rate besonders hoch.
Grafik: IHME

Nur zur Erinnerung und Einordnung: Solche Zahlen relativieren einmal mehr die umstrittenen Berechnungen zum Sterberisiko mit Sars-Cov-2 (IFR, Infection Fatality Rate) des renommierten Gesundheitswissenschafters John Ioannidis. Der Stanford-Professor ermittelte nämlich für Sars-CoV-2 im Median eine IFR von 0,23 bzw. 0,27 – ein Wert, der bis heute immer wieder gerne von Corona-Verharmlosern ins Treffen geführt wird. Das würde bedeuten, dass bei 2.300 bzw. 2.700 Toten pro eine Million eigentlich 100 Prozent der Bevölkerung infiziert gewesen sein müssten.

Bei den IHME-Berechnungen wurde auch berücksichtigt, dass es in der Pandemie eine Verschiebung bei den Todesursachen gab. So kam es wegen der eingeschränkten Mobilität zu weniger Unfällen im Straßenverkehr, zugleich kam es etwa zu Verzögerungen bei der Behandlung anderer Krankheiten. Nach Berücksichtigung dieser Faktoren schätzten die Wissenschafter die Zahl der Todesfälle, die nur auf eine Covid-19-Erkrankung zurückzuführen sein dürften, auch wenn diese nicht immer als solche erfasst wurden.

10,2 Millionen statt 3,3 Millionen

Noch etwas dramatischer, aber auch komplexer fallen die Schätzungen der Covid-Toten aus, die das angesehene Datenjournalistenteam des britischen Wochenmagazins "The Economist" am Wochenende publizierte. Laut den Berechnungen der Datenexperten um Sondre Ulvund Solstad dürfte die Zahl der Corona-Toten global am ehesten bei rund 10,2 Millionen Menschen liegen (Stichtag 10. Mai); die Zahl liegt mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent (Konfidenzintervall) zwischen 7,1 und 12,7 Millionen.

Sondre Ulvund Solstad vom "Economist" erklärt die Berechnungsmethoden und die wichtigsten Ergebnisse.
The Economist

Die Journalisten um Solstad reklamieren für sich, dass ihr Berechnungsmodell um einiges ausgefeilter sei als das des IHME, denn sie sammelten für ihre Schätzung zunächst Daten von nicht weniger als 121 Indikatoren (Demografie, Antikörperstudien et cetera) für mehr als 200 Länder und Territorien. Als Nächstes trainierten sie eine selbstlernende KI-Software, die sogenanntes "Gradient Boosting" verwendete, um Beziehungen zwischen diesen Indikatoren und den Daten zu Übersterblichkeit in jenen Ländern zu finden, in denen sie verfügbar waren. Das fertige Modell nutzte diese Beziehungen, um Schätzungen der Sterbefälle zu Zeiten und in Ländern zu liefern, für die keine Daten verfügbar waren.

Unterschiedliche Unsicherheiten

Auf Regionen umgelegt ermittelten sie für Asien mit einer 95-Prozent-Wahrscheinlichkeit 2,4 bis 7,1 Millionen zusätzliche Tote durch die Pandemie (offiziell 0,6 Millionen), für Lateinamerika inklusive Karibik 1,5 bis 1,8 Millionen (offiziell 0,6 Millionen) und für Europa 1,5 bis 1,6 Millionen (statt einer Million). Besonders groß ist das 95-prozentige Konfidenzintervall für Afrika: Es liegt im Bereich von 0 bis 2,1 Millionen. Mit anderen Worten: Die Datenunsicherheit ist in Afrika besonders hoch. Ähnliches gilt laut dem "Economist" auch für Indien. Hier schätzen die Datenjournalisten, dass nicht bis zu 4.000 Menschen pro Tag an Covid-19 sterben, sondern eher rund 20.000.

Immerhin kommen die Kollegen vom "Economist" und die Forschenden vom IHME auf einige ähnliche Schlussfolgerungen – etwa betreffend Russland. Auch die Datenjournalisten schätzen, dass Russlands offizielle Covid-Zahlen besonders stark von der Realität abweichen und um mehr als das Fünffache zu niedrig seien. (Klaus Taschwer, 18.5.2021)