Sonnencremen, Reinigungslotions oder Make-up: Die Auswahl an Produkten auf der polnischen Facebook-Seite ist groß. Nur: Keines davon existiert tatsächlich. Statt Verkäuferinnen arbeiten dort Psychologinnen, um vor allem Frauen vor Gewalt zu schützen. "Kosmetik, die die Haut rettet", sagt die Organisation dazu.

Foto: Rumianski i bratki

Der polnische Webshop "Kamille und Stiefmütterchen" ("Rumianki i bratki") sieht auf den ersten Blick aus wie viele andere auch: Ein rosa Logo mit Blumen, dazu eine Liste mit Haut-, Hand- und Gesichtscremen aller Art finden sich auf der Facebook-Seite. Wer jedoch genauer hinsieht, bemerkt, dass es zu den Produkten keine Preise gibt. Auch eine offizielle Website fehlt. Tatsächlich hat der Webshop seit seiner Gründung vor einem Jahr noch kein einziges Produkt verkauft.

Das will die Gründerin Krystyna Paszko auch gar nicht. Stattdessen geht es der 18-jährigen Schülerin aus Warschau mit dem vermeintlichen Kosmetika-Shop darum, Frauen zu helfen, denen seit der Pandemie vermehrt häusliche Gewalt angetan wird. Unter dem Vorwand, nur nach einer Gesichtscreme zu suchen, können Gewaltopfer hier um Hilfe suchen – und das, ohne dass es der Täter bemerkt und deshalb erneut ausrastet, sagt Paszko.

Ein ähnliches Konzept gibt es bereits in Frankreich: Dort können Gewaltopfer in einer Apotheke nach einer speziellen Maske fragen – ein Codewort, um Hilfe zu bekommen. Vor kurzem hat die Europäische Union das Projekt von Krystyna Paszko mit dem EU-Preis für zivile Solidarität und 10.000 Euro ausgezeichnet. Im Interview erzählt sie, wie es zu der Idee gekommen ist, warum diese mehr denn je gebraucht wird und wo es bald ähnliche Initiativen geben könnte.

STANDARD: Frau Paszko, die wenigsten Schülerinnen denken wohl daran, neben ihrer Schulzeit ein Sozialprojekt zu starten. Wie sind Sie auf die Idee gekommen?

Paszko: Ich war schon immer sozial engagiert, habe bei einigen Initiativen freiwillig mitgeholfen. Zuerst sah ich es als eine Idee für meine eigenen Freunde auf Facebook. Ich dachte, wenn ich 500 Freunde auf Facebook habe, dann leiden rein statistisch gesehen einige von ihnen unter häuslicher Gewalt. Diesen Menschen wollte ich helfen. Aber dann ist das Ganze auf den sozialen Medien sehr groß geworden. Ich habe einen offiziellen Shop gegründet und das Warschauer Zentrum für Frauenrechte mit ins Boot geholt. Jetzt arbeiten rund 30 Psychologinnen und 15 Anwältinnen für das Projekt.

STANDARD: Wie funktioniert der Webshop als Hilfsangebot genau?

Paszko: Auf der Facebook-Seite bieten wir vermeintliche Kosmetikprodukte an. Menschen, die auf die Seite aufmerksam werden, schreiben uns, dass sie eine Creme kaufen wollen. Anstelle einer Verkäuferin meldet sich dann eine Psychologin, die der Person einige Fragen stellt, um herauszufinden, was vor sich geht. Diese Fragen lauten dann etwa: Seit wann haben Sie Probleme mit der Haut? Wie reagiert Ihre Haut mit Alkohol? Brauchen Sie auch für Ihre Kinder Kosmetikprodukte? Anhand der Antworten können die Psychologinnen beurteilen, ob und welches Problem bei der Person vorliegt. Teilt uns eine Frau beispielsweise mit, dass sie Probleme mit Gesichtscremen habe, die Alkohol enthalten, dann wissen wir, dass sie wahrscheinlich von ihrem Partner, der Alkoholiker ist, geschlagen wird. Wenn eine Person eine Bestellung aufgibt und uns ihre Adresse bekanntgibt, ist das ein Zeichen für die Psychologinnen, dass sie die Polizei alarmieren müssen. In einigen Fällen schalten wir unsere Anwältinnen ein, um die Fälle zu behandeln. Zudem stellen wir psychotherapeutische Behandlungen und Unterkünfte zur Verfügung.

STANDARD: Woher wissen Sie, dass die Menschen, die sich melden, nicht tatsächlich Hautcremes bestellen wollen?

Paszko: Es ist sehr offensichtlich, wer sich meldet, um Hilfe zu suchen, und wer den Shop mit einem echten verwechselt. Denn Letztere sind immer sehr enttäuscht und beschweren sich, warum bei den Produkten keine Preise angezeigt werden und warum es keine Website gibt. Einige drohen uns dann, nichts mehr bei uns zu kaufen (lacht).

STANDARD: Können sich Menschen nicht auch einfach direkt an die Polizei wenden? Warum braucht es für die Kommunikation einen Fake-Kosmetikshop auf Facebook?

Paszko: Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens hat die Corona-Pandemie dazu geführt, dass viele Menschen zu Hause quasi eingeschlossen sind. Wenn Opfer von häuslicher Gewalt einfach bei der Polizei anrufen, besteht die Gefahr, dass der Partner das Gespräch im anderen Zimmer hört. Die Handys von Frauen werden in einigen Fällen von ihren Partnern oder der Familie überwacht. Zweitens ist die Polizei den Opfern nicht immer behilflich. In einzelnen Fällen sind lokale Polizeibeamte mit den Tätern befreundet. Wir wollen dann dafür sorgen, dass der Fall von anderen Polizeistationen behandelt wird. Drittens sind sich Frauen nicht immer sicher, ab wann die Grenze bei häuslicher Gewalt überschritten ist. Dann müssen sie mit Expertinnen darüber sprechen, um zu erkennen, wie ernst die Lage ist. Nicht zuletzt ist speziell für jüngere Frauen der Kontakt über Facebook leichter, als direkt bei der Polizei oder einer Organisation anzurufen, weil es sich für viele sicherer und weniger offiziell anfühlt.

Im Alter von 17 Jahren gründete die Polin Krystyna Paszko die Initiative.
Foto: Jonasz Jezusek

STANDARD: Welche Personen wenden sich vorrangig an Sie und Ihr Team?

Paszko: Vor allem jüngere Frauen und Teenager – etwa wenn es um Probleme in der eigenen Familie geht. Aber es gibt auch einige Männer, die uns kontaktieren. Dabei handelt es sich vor allem um Opfer von psychischer Gewalt.

STANDARD: Wie viele Menschen haben sich seit der Gründung vor einem Jahr gemeldet?

Paszko: Ungefähr 500 Personen. Durch die Corona-Beschränkungen hat sich die Zahl der Menschen, die uns kontaktieren, stark erhöht. Im letzten Sommer, als es weniger Einschränkungen gab, sank auch die Zahl der Hilfesuchenden, es gab nur ein bis zwei Personen alle paar Tage. Mit dem erneuten Lockdown stieg die Zahl auf über zehn Personen pro Tag. Das ist circa das Doppelte der Personen, die üblicherweise in öffentlichen Statistiken zum Thema häusliche Gewalt aufscheinen.

STANDARD: Wie sieht die Situation bezüglich häuslicher Gewalt in Polen derzeit aus?

Paszko: Es hängt davon ab. In einzelnen Fällen versucht die Regierung, Frauen zu helfen. Sie verabschiedete etwa ein Gesetz, durch das die Polizei den Täter ohne Gerichtsentscheid aus der gemeinsamen Wohnung weisen und ihm für zwei Wochen verbieten kann, sich dem Ort zu nähern. Es gibt aber auch viele negative Entwicklungen: Schon seit längerem redet die Regierung davon, aus der Istanbul-Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen auszusteigen. Die Regierung sieht darin einen angeblich ideologischen Angriff auf die traditionelle Institution von Familie und Ehe. Und erst vor kurzem wurde das Abtreibungsgesetz im Land verschärft. Frauen dürfen nun beispielsweise keine Abtreibung mehr durchführen, wenn das Kind krank ist.

STANDARD: Trotzdem ist das Problem nicht nur auf Polen beschränkt. Wurden Sie auch von Menschen aus anderen Ländern zu der Idee des Webshops kontaktiert?

Paszko: Tatsächlich haben uns mittlerweile schon Menschen kontaktiert, die die Initiative auch in anderen Ländern starten wollen, etwa in Griechenland, Deutschland oder den USA. Uns ist wichtig, dass der Standard der Hilfeleistung erhalten bleibt und dass Expertinnen und Psychologinnen mit an Bord sind. Denn man kann bei dieser Arbeit nicht nur helfen, sondern auch schaden. Das ist ein sehr heikler Bereich.

STANDARD: Die Bekanntheit des Webshops steigt immer mehr. Könnte das zu einem Problem werden, wenn die Täter dann auch darüber Bescheid wissen?

Paszko: Natürlich könnte das passieren. Aber wir haben einige Maßnahmen getroffen, um das zu verhindern. In den ersten Monaten haben wir beispielsweise die Informationen zu dem Projekt vor allem in Frauengruppen auf Facebook oder in privaten Nachrichten geteilt. Aus den Statistiken sehen wir, dass 95 Prozent der Besucher der Seite Frauen sind. Zudem ist der Name des Shops eine Anti-Marketing-Strategie: "Kamille und Stiefmütterchen" können sich die meisten Menschen nur schwer merken.

STANDARD: Wie lange soll das Projekt weiterlaufen?

Paszko: Wir werden sicher noch bis zum Ende der Pandemie mit dem Projekt weitermachen. Dann werden wir sehen, ob dieser Hilfsdienst noch gebraucht wird. (Jakob Pallinger, 22.5.2021)