Destiny aus Malta kam als Favoritin.
Foto: Andreas Putting / EBU

Litauische Fingerakrobatik, russischer Feminismus, eine zyprische Coverversion, belgische Kunst, ukrainische Dance-Folklore und maltesisches Empowerment: Das erste Semi hat einige Knüller zu bieten.

Covid-Fälle mehren sich

Covid-Fälle bei den einzelnen Delegationen machen den Verantwortlichen immer wieder Sorgen. Polen und Island hatten Fälle in ihren Delegationen, die Teams von Malta und Rumänien wurden kurzzeitig unter Quarantäne gestellt, weil sie im selben Hotel untergebracht sind. Australien reiste erst gar nicht an.

Sollte der Fall eintreten, dass ein Act aufgrund einer Infektion oder einer Quarantäneverpflichtung ausfällt, haben die Veranstalter vorgesorgt. Schon im Frühjahr musste jedes Land ein "Live on Tape"-Auftritt aufnehmen und der EBU übermitteln. Und mittlerweile wurde auch der letzte Probenauftritt aufgenommen. Bei einem Ausfall können die Delegationen auswählen, welche der beiden Aufnahmen eingespielt wird.

Kaum politische Scharmützel

Wenn Länder gegeneinander antreten, sind politische Scharmützel meistens nicht weit entfernt. Doch bislang spielten diese sich nur im Vorfeld ab: Armenien zog seine Teilnahme nach dem Krieg um Bergkarabach zurück, Aserbaidschan macht aber mit. Der belarussische Beitrag wurde wegen zu brutaler Regimetreue und Oppositionsbashing disqualifiziert. Der nordmazedonische Teilnehmer war in seiner Heimat einem Shitstorm mit stark homophoben Tönen ausgesetzt. Vasil hat sich daraufhin geoutet und will LGBTIQ-Botschafter für den Balkan werden.

Der Russland-Ukraine-Konflikt ist seit einigen Jahren ständiger Begleiter beim Eurovision Song Contest. Dieses Jahr in Rotterdam findet dieser (noch) nicht statt, obwohl beide im ersten Semifinale antreten werden. Dies wohl auch, weil die Russin Manizha mehr mit Widerstand zu Hause zu tun hatte und keine Angriffsfläche bietet. Ultranational-konservative Kräfte in Russland warfen ihr vor, unrussisch zu sein, und forderten ihre Absetzung als Kandidatin. Manizha ist in der Tat eine überraschende russische Kandidatin. Sie ist gebürtige Tadschikin, floh nach Russland und ist dort mittlerweile eine meinungsstarke Feministin und Anwältin für Menschenrechte, Flüchtlinge und die LGBTIQ-Community Russland.

Währenddessen verpackt die ukrainische Gruppe Go_A das nationale Prinzip, das derzeit in der Ukraine kulturell gefordert und gefördert wird, durch Folkloreelemente, die sie aber gekonnt als Rave inszeniert. Die Israelin Eden Alene wurde von den aktuellen Entwicklungen in Israel abgeschirmt. Erstaunlicherweise wurde in ihrer Pressekonferenz die Frage, wie sie es persönlich empfindet, wenn Raketen auf ihre Heimat abgeschossen werden, abgewürgt.

Es geht los

Aber nun sind wieder die Windmaschinen und Pyros dran. Der Eurovision Song Contest 2021 beginnt. Über die Eurovision-App kann jeder die Lautstärke des Applauses mitbestimmen. Auffallende Konstanten dieses Jahrgangs: Offenbar sehen Visagisten derzeit gerne glänzende Make-ups, während man früher jeden Glanz vermeiden wollte. Silberne Kleider mit Fransen sind der absolute Trend und vier Tänzer als Begleitung Standard.

Hier ist die Startreihenfolge für heute Abend. Dazu mein Tipp, ob der Act das Finale erreichen wird, wackelt oder rausfliegt und wie die Buchmacher dies sehen (Stand 17. Mai. 17 Uhr). Die ersten zehn werden ins Finale am Samstag kommen, sechs Acts müssen wieder nach Hause fahren.

1. Litauen: The Roop – Discotheque

Quietschvergnügt in Knallgelb und mit großartiger Fingerchoreografie bezaubert Litauen als perfekter Opener. Bereits in der abgesagten 2020er-Ausgabe galten sie mit "On Fire" als Mitfavoriten für den Sieg. "Discotheque" ist eine fröhlicher Song, der dazu animieren möchte, stolz auf sich zu sein, alleine tanzen zu können und dass es nie einen Grund gibt, den Kopf hängen zu lassen. Wunderbare Botschaft zu Beginn.

Mein Tipp: weiter

Buchmacher: Platz 3

2. Slowenien: Ana Soklič – Amen

Die Altstimme der slowenischen Kandidatin ist umwerfend und erinnert im Timbre an Conchita. Verpackt wurde die Stimme jedoch in eine sehr altbackene hymnische Ballade, die unspektakulär inszeniert wurde. Es gibt gleich zwei Songs mit dem Titel "Amen" beim ESC hier in Rotterdam So etwas passiert aber nicht zum ersten Mal. In Wien 2015 gab es etwa zwei Songs mit dem Titel "Warrior".

Mein Tipp: raus

Buchmacher: Platz 15

Russland schickt mit Manizha eine überraschend progressive Kandidatin.
Foto: Thomas Hanses EBU

3. Russland: Manizha – Russian Woman

Am Weltfrauentag wurde in Russland eine nationale Vorentscheidung ausgetragen, und zur Überraschung aller wählte das Publikum feministisches Empowerment. Manizha ist eine in Russland engagierte, bekannte und umstrittene Künstlerin. Sie wird aus einem traditionellen russischen Kleid befreit, um die Emanzipation russischer Frauen zu feiern, verpackt in einem Beitrag voller gebrochener folkloristischer und moderner Elemente. Am Ende singen russische Frauen als Bildschirme mit. Toller Beitrag und spannend inszeniert.

Mein Tipp: weiter

Buchmacher: Platz 5

4. Schweden: Tusse – Voices

Schweden steht beim Eurovision Song Contest für Popmusik, die in Radios und Charts perfekt funktioniert. Trotzdem klingen schwedische Acts immer wie aus einem Baukasten entnommen. Tusse muss einen genau solchen generischen Song singen. Der junge charismatische Interpret ist aber ein sehr interessanter Künstler, der sich vor kurzem noch einer Stimmbandoperation unterziehen musste. Er kam 2015 als unbegleiteter jugendlicher Flüchtling aus dem Kongo nach Schweden, um einige Jahre später die Castingshow "Idol" zu gewinnen.

Mein Tipp: weiter, könnte aber wackeln

Buchmacher: Platz 6

Australiens Beitrag von Montaigne wird vom Band eingespielt. Die Delegation reiste nicht nach Rotterdam.
Foto: Jess Gleeson

5. Australien: Montaigne – Technicolour

Montaigne kann nicht in Rotterdam auftreten, da Australien nur begrenzt Ausreisen erlaubt. Ihr Engagement für die Queer Community ist an ihren Haarfärbungen zu erkennen. Das Lied ist Elektropop und erinnert mit der Verwendung industriell anmutender Geräusche als Beat an Depeche Mode. Montaignes Gesangsstil ist sehr eigen und schwierig: Die einen lieben es, für andere ist das nur nervig. In den bisherigen Live-Auftritten, die man verfolgen konnte, war ihre Stimme oft schief. Die Videoeinspielung aus Australien klingt jedoch verdächtig nach der Studioversion.

Mein Tipp: raus

Buchmacher: Platz 13

6. Nordmazedonien: Vasil – Here I Stand

Wenn man sich die Klischeevorstellung eines Disney-Songs vorstellt, dann klingt das in etwa wie dieser Beitrag. Dick aufgetragen wird hier symphonischer Schmalz geboten. Dass Vasil nach dem heimatlichen Shitstorm nun ein Botschafter der LGBTIQ-Community werden will, ist die bessere Nachricht als der schmalzige Song. Musicalliebhaber werden das aber mögen.

Mein Tipp: raus

Buchmacher: letzter Platz 16

7. Irland: Lesley Roy – Maps

Lesley Roy bewegt sich viel, muss von Station zu Station hetzen, es gibt Daumenkino und sehr viel Schnickschnack. Irland sucht seit vielen Jahren wieder den Anschluss, um an Erfolge der Neunzigerjahre anzuschließen. Das will noch immer nicht so recht funktionieren. Auch diese an Katy Perry erinnernde Nummer wird eher nichts daran ändern. In den Proben wackelte ihre Stimme öfter. Hoffen wir, sie kriegt das heute Abend in den Griff. Eine weniger atemlose Inszenierung hätte gutgetan.

Mein Tipp: raus

Buchmacher: Platz 14

8. Zypern: Elina Tsagrinou – El diablo

Der Uptempo-Banger aus Zypern hat alles, was eine moderne Dance-Nummer haben muss, und das ist auch zugleich das Problem, denn nichts daran ist originell. Zypern will seit dem zweiten Platz in Lissabon 2018 unbedingt das "Fuego"-Erfolgsmodell kopieren. Fürs Finale wird das bestimmt reichen und viele Fans gewinnen, aber Lady Gaga hätte ihren Bad-Romance-Hook gerne wieder zurück. Ich würde mich freuen, wenn Zypern wieder einmal einen Beitrag schicken würde, der eine gewisse künstlerische Eigenständigkeit hätte.

Mein Tipp: leider weiter

Buchmacher: Platz 2

9. Norwegen: TIX – Fallen Angel

TIX war früher der Teenagepartysänger Norwegens, der sich derzeit neu erfinden will. Der Name kommt von seinen "Ticks" durch das Tourette-Syndrom. TIX war als Songschreiber am Hit "Sweet but Psycho" von Ava Max beteiligt, der 2018 die Charts stürmte. "Fallen Angel" ist ein eingängiger, aber doch recht trivialer Song. Die Inszenierung mit weißem Engel und schwarzen Dämonen wirkt seltsam altbacken.

Mein Tipp: könnte wackeln, eher weiter

Buchmacher: Platz 8

10. Kroatien: Albina – Tick-Tock

So wie viele anderen weine ich etwas der kroatischen Version nach und bedauere die größtenteils anglisierte Version. Trotzdem wirkt "Tick-Tock" von all den Dance-Bangern in diesem Semifinale am erfrischendsten und ist mit den übertriebenen Kostümen auch stimmig inszeniert. Der Ohrwurm wird bei jeder Probe stimmlich einwandfrei vorgetragen, und danach ertappte ich mich immer dabei, wie ich diesen Song vor mich hin summte und er sich in meinen Gehörgängen mehr als die anderen eingenistet hatte. Meistens ein gutes Zeichen für einen Song. Man erinnert sich an ihn!

Mein Tipp: weiter

Buchmacher: Platz 7

Die ukrainische Band Go_A besticht durch Folklore-Rave.
Foto: Thomas Hanses EBU

11. Belgien: Hooverphonic – The Wrong Place

Hooverphonic sind der erfahrenste Act des diesjährigen Song Contest. Sie begannen ihre Karriere im Sog des Triphop-Hypes aus Bristol 1995. Sie produzierten seither elf Alben und lieferten Soundtracks, etwa für den Film "Sterling Beauty" von Bernardo Bertolucci. Ihre musikalische Erfahrung und ihr Anspruch, Kunst zu machen, stellen sie in Rotterdam ins Zentrum ihrer Performance. Ob so ein Song auch in einem Wettbewerb funktioniert, muss erst bewiesen werden. Geike Arnaert singt live so unfassbar gut. Hooverphonic-Fans werden zu Recht begeistert sein. Das neue dazu veröffentlichte Album "Hidden Stories" ist übrigens großartig.

Mein Tipp: hoffentlich weiter

Buchmacher: Platz 12

12. Israel: Eden Alene – Set Me Free

Bei jedem ESC ist ein Trickkleid Pflicht! Dieses Jahr ist es die israelische Kandidatin, die live auf der Bühne umgekleidet wird. Der Song plätschert gefällig vor sich hin, ohne recht vom Hocker zu reißen. Dafür bekommen wir die höchsten Töne zu hören, die je beim ESC gesungen wurden.

Mein Tipp: Wackelkandidatin, eher raus

Buchmacher: Platz 11

13. Rumänien: Roxen – Amnesia

Rumänien kam als Dark Horse nach Rotterdam. Man traute diesem modernen Popsong doch einiges zu. Doch bei den Proben konnte die oft daneben singende und schrille Stimme von Roxen kaum überzeugen. Dies ist bedauerlich, weil es ein wirklich spannender Song ist, der Angstzustände und die Befreiung daraus zum Thema macht. Genau das wird auch tänzerisch dargestellt, was Roxen in den Proben oft leider atemlos machte.

Mein Tipp: raus

Buchmacher: Platz 9

14. Aserbaidschan: Efendi – Mata Hari

Auch der orientalisierte Pop beim Eurovision Song Contest hat seine Schablonen. Und "Mata Hari" klingt wie alle Schablonen. Man hätte sich im Vorfeld zumindest eine Over-the-top-Inszenierung gewünscht, die so richtig dick aufträgt. Aber auch das kommt nicht. Efendi wäre die würdige Titelanwärterin für den Bad English Award, wenn es den gebe würde. Aber nett von ihr, in Rotterdam über eine niederländische Spionin zu singen. Auch wenn dies im Lied eigentlich keine Rolle spielt.

Mein Tipp: Ich hoffe raus, aber vermutlich weiter

Buchmacher: Platz 10

15. Ukraine: Go_A – Shum

Weißer Gesang ist eine Vokaltechnik, die in Osteuropa traditionell in der Folklore verhaftet ist. Die Gruppe Go_A verknüpft diese Einflüsse gekonnt mit modernem Elektropop. "Shum" ist eine sensationell gelungene Nummer, die sehr stimmig inszeniert wurde. Viele Facetten, es wird nie langweilig, steigert sich immer weiter, und man bleibt gefesselt dran. Das Timing der Performance ist auf dem Punkt. Mein Lieblingsbeitrag in diesem Semifinale.

Mein Tipp: weiter

Buchmacher: Platz 4

16. Malta: Destiny – Je me casse

Body-Positivity und Frauen-Empowerment sind nicht das erste Mal Thema beim Eurovision Song Contest. Man erinnert sich etwa an Netta, die Siegerin 2018 aus Israel. Destiny – erst 19-jährig – singt genau darüber. Ob das Thema von ihr selbst ausgesucht wurde, darf aber bezweifelt werden, denn ein schwedisches Team steckt hinter dem Beitrag. Sie kam als Führende bei den Buchmachern nach Rotterdam, doch seit der ersten Probe sackte sie etwas ab. Vermutlich ist der Beitrag doch zu sehr Konzept und zu wenig etwas, das von Destiny selbst kommt. Ihre Stimme ist jedenfalls toll. 2015 gewann sie übrigens die Kinderausgabe Junior Eurovision.

Mein Tipp: weiter

Buchmacher: Platz 1

(Marco Schreuder, 18.5.2021)