Brüderliche Freundschaft zwischen Männern: Bruno Kreisky und Muammar al-Gaddafi im Wiener Hotel Imperial, März 1982.

Foto: Rudolf Semotan

Nichts hat den Gerechtigkeitssinn vieler Österreicher zuletzt so sehr gestört wie ein Stück Stoff, das, von den rauen Mai-Lüften bewegt, weithin sichtbar über dem Wiener Ballhausplatz flatterte. Die von edlen Motiven der Anteilnahme getragene Idee, die Flagge mit dem blauen Davidstern in den Wind zu hängen, versetzte mich schlagartig zurück in meine schwarz-weiße Kindheit.

Als kleiner Babyboomer verbrachte ich die Zeit abends um halb acht zuverlässig auf der Couch. Die "Zeit im Bild" glich damals, in den ersten Reformjahren der Ära Bruno Kreisky, der sonntäglichen Messe aufs Haar. Ein Mann in den nur noch zweitbesten Jahren verlas mit einer Stimme, die den unerwarteten Tod eines lieben Verwandten anzuzeigen schien, Nachrichten aus aller Welt.

Stach die Sendungsmacher der Hafer, wurden obendrein bewegte Bilder gezeigt. Zu sehen gab es zum Beispiel 1973 vornehmlich "israelische Panzer". Diese rollten ohne Unterlass über helle Wüstenböden. Allmählich lernte ich, die dazugehörigen Politiker voneinander zu unterscheiden. Verteidigungsminister Mosche Dajan machte auf mich den nachhaltigsten Eindruck. Er trug eine Augenklappe, gehörte also mutmaßlich dem Berufsstand der Freibeuter an. Vertrauenerweckend hingegen das gütige Antlitz von Israels Ministerpräsidentin Golda Meir: Es schien Bruno Kreisky wie aus dem Gesicht gerissen.

Die heißesten Küsse

Ihre Ähnlichkeit verleitete die beiden nie dazu, vor Publikum Zärtlichkeiten auszutauschen. Seine heißesten Küsse behielt Kreisky, der leidenschaftliche Diplomat, dem libyschen Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi vor. Seither ist das Zärtlichkeitsniveau in der internationalen Politik beträchtlich gesunken. Auch fehlen die kommunistischen Parteiführer, die den Mund- und Rachenraum ihres Gegenübers mit dem wachen Interesse von HNO-Ärzten inspizierten.

Wo es an der Spatel fehlte, musste eine Zunge her. Heute herrscht allgemein Funkstille zwischen den Schleimhäuten. Ein ebenso formvollendeter wie bräutlicher Knicks von Außenministerin Karin Kneissl für Wladimir Putin – das war’s in den vergangenen paar Jahren. Über Außenminister Schallenbergs Zungenfertigkeit ist nichts bekannt. (Ronald Pohl, 19.5.2021)