Die "Bildblog"-Autoren Moritz Tschermak (links) und Mats Schönauer rechnen seit Jahren mit "Bild" ab – jetzt auch in Buchform.

Foto: Urban Zintel

Brutal, menschenverachtend und populistisch agiert das deutsche Boulevardblatt Bild in den Augen von Moritz Tschermak und Mats Schönauer. Der aktuelle und der ehemalige Chefredakteur des Watchblogs "Bildblog" sezieren in ihrem neuen Buch "Ohne Rücksicht auf Verluste. Wie 'Bild' mit Angst und Hass die Gesellschaft spaltet" die Methoden von Deutschlands mächtigstem Medium und dessen Chefredakteur Julian Reichelt. Gewissenhafte Recherche gehöre nicht dazu.

STANDARD: Sie beginnen Ihr Buch mit einem Briefwechsel zwischen TV-Moderator Günther Jauch und "Bild"-Chefredakteur Julian Reichelt. Warum? Weil das symptomatisch ist? Es geht um die Missachtung von Persönlichkeitsrechten nach dem Tod von Günther Jauchs Schwiegervater.

Schönauer: Zum einen war diese Geschichte bisher noch nicht bekannt. Zum anderen passt sie sehr gut, weil sie das skrupellose Vorgehen von "Bild" einerseits, aber auch die in den letzten Jahren hinzugekommene Schärfe durch Julian Reichelt andererseits sehr gut abbildet. Günther Jauch hält sein Privatleben ja sehr strikt aus der Öffentlichkeit heraus. "Bild" hat das respektiert und in den letzten Jahren nie eine große Geschichte darüber gemacht. Mit Julian Reichelt hat es sich geändert. Obwohl Jauch explizit gebeten hatte, nicht über den Tod des Schwiegervaters zu berichten, hat sich "Bild" darüber hinweggesetzt.

Tschermak: Dazu kommt auch noch, und das ist symptomatisch, die Reaktion von Julian Reichelt in dem Briefwechsel. Man könnte vermuten, dass es eine Beschwichtigung oder ein Pardon gibt, aber Reichelt schaltet sofort in den Gegenangriff. Wie Reichelt mit Kritik umgeht, beschreiben wir auch im weiteren Verlauf des Buches: Es wird direkt zurückgeschossen.

STANDARD: Jauch konnte sich rechtlich wehren und mittels einstweiliger Verfügung erwirken, dass "Bild" nicht mehr über den Tod seines Schwiegervaters berichten darf. Den meisten Betroffenen fehlen die Mittel dazu.

Schönauer: Auf jeden Fall. Einerseits braucht man die nötige Zeit und Kraft, aber auch Geld. Vor allem wenn es häufige Auseinandersetzungen sind, die prominente Menschen führen. Da bräuchte es rund um die Uhr einen Medienanwalt und damit das nötige Budget. Günther Jauch hat das, keine Frage, und kann sich das im Gegensatz zu Menschen, die weder wohlhabend noch prominent sind, leisten. Viele Opfer der "Bild"-Zeitung verfügen weder über das Geld noch über die Kraft. Wir haben mit Betroffenen der Berichterstattung gesprochen. Die waren zu dem Zeitpunkt in psychischen Extremsituationen, weil sie etwa gerade geliebte Menschen verloren haben. Dann muss man erst die Kraft haben, sich zu wehren.

Tschermak: So kommt die "Bild"-Redaktion mit dieser Art von Journalismus durch, weil sich die Betroffenen nicht auch noch mit dem Axel-Springer-Verlag anlegen möchten.

STANDARD: Für den Milliardenkonzern Axel Springer sind solche Entschädigungszahlungen ohnehin nur Peanuts?

Tschermak: In den meisten Fällen ja. Es gibt aber auch Ausnahmen wie im Falle des Fernsehmoderators Jörg Kachelmann, wo es um Summen von mehreren Hunderttausend Euro gegangen ist.

STANDARD: Sie werfen "Bild" systematisches Schüren von Ängsten vor und ein Treten nach unten. Welches Muster steckt hinter den "Bild"-Geschichten?

Tschermak: Es gibt jetzt nicht eine Formel, aber ein paar Grundströme: Zum einen ist es das Bilden und Schüren von Feindbildern. Das funktioniert etwa über bestimmte Begriffe und Sprache. Dazu kommen noch das Weglassen von entlastenden Fakten, das Suchen nach Experten, die das Feindbild immer weiter unterstützen, obwohl es eine Reihe an Experten gibt, die dem entgegenstehen. Es ist sehr schwer, aus diesem Schema an Feind-, aber auch Freundbildern herauszukommen.

Mats Schönauer, Moritz Tschermak: "Ohne Rücksicht auf Verluste. Wie 'Bild' mit Angst und Hass die Gesellschaft spaltet", erschienen bei Kiepenhauer & Witsch. 336 Seiten, 18 Euro.
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STANDARD: Welche Beispiele gibt es?

Tschermak: Der ehemalige US-Präsident Donald Trump wurde anfangs eher kritisch beäugt. Nachdem er sich mit dem Iran und Syrien angelegt hatte, beides große Feindbilder der "Bild"-Redaktion, wechselte die Berichterstattung. Sie war dann fast bis zum Ende seiner Präsidentschaft recht positiv. Nach dem Sturm auf das Kapitol der Trump-Anhänger war Trump aber plötzlich wieder böse – und es klang so, als hätte ihn "Bild" schon immer schlimm gefunden. Dieses Unterteilen in Gut und Böse, daran orientiert sich ein großer Teil der Berichterstattung.

Schönauer: Ausgehend von dieser Einteilung funktionieren auch gewisse Mechanismen. Dass den Feinden Dinge angehängt werden, die sie gar nicht begangen haben. Bewusst, um sie in ein schlechtes Licht zu rücken. Ob es da um Wölfe geht, die eigentlich Hunde sind, oder um bestimmte politische Gruppierungen: "Bild" macht das bewusst, um Feindbilder zu schüren.

Tschermak: Daraus entstehen viele Berichterstattungsmuster, etwa ein "Wir" und "Die". Eine der bekanntesten "Bild"-Schlagzeilen der vergangenen Jahre lautet ja "Wir sind Papst" – mit der Betonung auf "Wir", als Benedikt XVI. zum Papst ernannt wurde. Wenn die deutsche Nationalmannschaft gewonnen oder verloren hat, geht es um "unsere" Mannschaft. Nicht die Fußballer sind Weltmeister, sondern wir sind es. Das Wir und Die spiegelt sich auch wider, wenn es um das Treten nach unten geht.

STANDARD: Inwiefern?

Tschermak: "Wir", das sind die Steuerzahler, und "die", das sind die Hartz-IV-Empfänger, die nur faul auf der Haut liegen und unser Steuergeld verbrauchen. Das geht dann so weit, dass ein Reporter zwei Männer zum Thema macht, die er zufällig vor dem Supermarkt sieht. Sie sind Hartz-IV-Empfänger und offenbar alkoholkrank. Die zwei haben Trinkwasser aus Plastikflaschen ausgeschüttet und sind mit den leeren Pfandflaschen zum Pfandautomaten gegangen, um mit dem Pfandbon Dosenbier zu kaufen. Als Hartz-IV-Empfänger mit Sanktion bekommen sie kein Geld ausbezahlt, sondern nur Lebensmittelmarken. Mit denen darf man sich keinen Alkohol oder Tabak kaufen. "Bild" schreibt dann süffisant, dass sei das Wunder von Berlin, wo aus Wasser Bier wird. Dann werden diese Männer, einer davon unverpixelt und deutlich identifizierbar, an den Pranger gestellt. Das ist das Freund-Feind-Schema: Wir Steuerzahler hier, die Hartz-IV-Schmarotzer dort.

STANDARD: Welche Feindbilder hat "Bild" noch?

Schönauer: Politisch traditionell alles, was eher links und grün ist. Denen werden besonders gerne Dinge angehängt, die sie gar nicht getan haben. Der Islam ist seit der Flüchtlingskrise 2015 ein immer wieder gefüttertes Feindbild. Unter Julian Reichelt ist die Stimmungsmache gegen Muslime stark angestiegen.

Tschermak: Auch da werden Dinge konstruiert, die nie passiert sind. Wenn man etwa so tut, als wäre es ein Kniefall vor den Muslimen, dass in Deutschland Weihnachtsmärkte nicht mehr Weihnachtsmärkte heißen dürfen, was überhaupt nicht stimmt. Recherchiert man nach und fragt, warum manche tatsächlich jetzt Wintermärkte heißen, bekommt man die Antwort, dass die Märkte ja nicht nur in der Adventszeit stattfinden, sondern im Winter – und dass es nicht darum geht, die Gefühle von Muslimen nicht zu verletzen. Solche Geschichten passen halt gut zum Pflegen des Feindbildes.

Schönauer: Ein weiteres Feindbild ist Wladimir Putin. Julian Reichelt hat ihn den Paten der Finsternis genannt. Oder Syriens Diktator Assad, der wird hart attackiert – aus guten Gründen. Das sind aber seltene Ausnahmen. In den meisten Fällen versteifen sie sich auf Feindbilder, die mit der Realität wenig zu tun haben.

STANDARD: Wie sieht das dann bei Putin aus?

Tschermak: Bei Putin gibt es reichlich Anlässe, sehr kritisch über ihn zu berichten. Durch die starke Fokussierung in Gut und Böse passiert es aber, dass irre Geschichten entstehen. Bei "Bild" wurde zum Beispiel vermutet, dass Putin Geflüchtete aus dem Irak und aus Syrien mithilfe seiner Geheimdienste organisiert und sie auf deutschen Musikfestivals als sogenannte Sex-Mobs losschickt. Nur damit die Bundesregierung kurz vor der Bundestagswahl, das muss 2017 gewesen sein, schlechte Presse bekommt und die Stimmung in Richtung AfD kippt. Nichts von dem hat stattgefunden. Oder als in Deutschland private Daten von Prominenten und Politikern veröffentlicht wurden. Julian Reichelt erzählt dann, dass das staatliche Stellen gewesen sein müssen und dass es typische Methoden vom russischen Geheimdienst seien. Am selben Tag meldet das Bundeskriminalamt als Tatverdächtigen einen 20-jährigen Schüler. Von Putin und dem Kreml war weit und breit nichts zu sehen.

Schönauer: Diese Einteilung in Gut und Böse führt dazu, dass die Fakten dem Weltbild untergeordnet werden. Weil Putin der Böse ist, wird die Urheberschaft sofort bei ihm gesucht, statt sich die Fakten anzusehen. Das ist ein gefährliches System. Fakten werden selektiv betrachtet oder sogar erfunden. Das Weltbild wird bedient, nicht aber die Realität abgebildet.

Tschermak: Es gibt aber auch Freundbilder. Zu denen gehört etwa Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz.

STANDARD: Weil er ideologisch auf derselben Wellenlänge ist?

Tschermak: Es gibt eine gewisse politische Nähe, was die Inhalte und Ansichten anbelangt, aber auch eine persönliche. Paul Ronzheimer, mittlerweile stellvertretender "Bild"-Chefredakteur, ist ja auch der Biograf von Sebastian Kurz. Julian Reichelt und Sebastian Kurz duzen sich. Nach der Ibiza-Affäre hatte Kurz das erste größere Interview nicht österreichischen Medien gegeben, sondern bild.de.

STANDARD: Und die Fragen waren nicht besonders kritisch, wie Sie schreiben.

Tschermak: Sie hatten schon vereinzelt einen kritischen Tenor. Sebastian Kurz wurde aber sehr viel Platz eingeräumt, sich schon für den dann folgenden Wahlkampf zu positionieren und ausgiebig zu erzählen, was er denn in den vergangenen Jahren Tolles für Österreich geleistet hat. Das war schon sehr auffällig.

Schönauer: In der "Bild"-Redaktion selbst hat man das sehr kritisch gesehen, dass Reichelt seinem Duzfreund mit diesem Interview ein Sprungbrett gegeben hat, sich so einfach aus der Affäre zu ziehen. Reichelt soll auch, als er wieder vom Interview zurückkam, eine Zeitlang mit österreichischem Akzent gesprochen haben. Das scheint einen starken Eindruck auf ihn gemacht zu haben (lacht).

Tschermak: Das kann natürlich als Witz gemeint sein, als Anekdote fanden wir das aber trotzdem schön.

Julian Reichelt ist seit 2017 "Bild"-Chefredakteur.
Foto: APA/dpa/Roland Weihrauch

STANDARD: Sie schreiben, dass "Bild" Wegbereiterin für die AfD und ihren Einzug in den Bundestag 2017 war. Können Sie das begründen?

Schönauer: Die "Bild"-Medien haben ihnen über die Jahre eine wichtige Bühne gegeben, indem sie große Interviews geführt haben. Irgendwann hat Julian Reichelt behauptet, sie würden keine Interviews mehr mit AfD-Politikern führen, was allerdings nicht gestimmt hat, weil etwa Alexander Gauland interviewt wurde. Entscheidender als die Bühne für AfD-Politiker ist aber die Position, die "Bild" vertritt.

STANDARD: Es gibt viele Übereinstimmungen und eine ideologische Nähe?

Schönauer: "Bild" hat beispielsweise vor der Bundestagswahl 2017 ein eigenes Wahlprogramm herausgegeben, woraufhin ganz viele AfD-Politiker gejubelt haben, weil es so viele Überschneidungen zwischen den politischen Forderungen von "Bild" und der AfD gab. Nicht zuletzt aufgrund der Stimmungsmache gegen Geflüchtete und Muslime oder gegen den angeblichen Verbotswahn der Grünen. Durch solche Geschichten, die bewusst falsch oder verdreht waren, haben sie der AfD über Jahre in die Karten gespielt. Das hat der AfD den Weg bereitet und in den Bundestag verholfen.

Tschermak: Das findet auch auf eher unverdächtigen Feldern statt, wenn es zum Beispiel um den Dieselskandal geht und Fahrverboten in Städten. "Bild" startet dann eine Kampagne nach dem Motto "Wir retten den deutschen Diesel", und zeitgleich springt die AfD mit einer fast wortgleichen Kampagne auf. Wir glauben Julian Reichelt bis zu einem gewissen Grad, dass er das Personal der AfD verabscheut, das ja teilweise sehr, sehr weit rechts steht. Man findet in "Bild" keinen Aufruf, die AfD zu wählen. Das würde auch nicht passen, da die AfD aus "Bild"-Sicht eigentlich unwählbar ist. Zum einen gibt es die Nähe der AfD zum Kreml und Putin, andererseits einen starken Antisemitismus. Dieses Feld, den Kampf gegen Antisemitismus, beackert "Bild" sehr stark, das muss man auch einmal lobend erwähnen. Nichtsdestotrotz produziert "Bild" publizistisch wahnsinnig tolle Vorlagen für die AfD.

Schönauer: Das sieht man auch klar an den Reaktionen auf Social Media. Wenn "Bild" eine falsche Behauptung in die Welt gesetzt hat, etwa dass sich die Weihnachtsmärkte jetzt nicht mehr Weihnachtsmärkte nennen dürfen oder dass Geflüchtete etwas gemacht hätten, was gar nicht stimmt, dann kann man an den Kommentaren sehr deutlich sehen, dass das die Stimmung anheizt und Leute wirklich explizit sagen: "Jetzt reicht es, jetzt wähle ich AfD." "Bild" treibt mit den falschen Geschichten Leute dazu, AfD zu wählen, und trägt maßgeblich zum Erfolg dieser Partei bei.

STANDARD: Mit welchen Geschichten zum Beispiel?

Tschermak: Über eine Browser-Erweiterung lässt sich sehen, welche Webseiten beispielsweise auf Facebook geteilt wurden. In Hamburg soll ein Geflüchteter eine Jugendliche vergewaltigt haben. Das war eine große "Bild"-Titelgeschichte auf der Bundesausgabe mit der Überschrift "Schon wieder!". Der Mann war abgebildet mit einem kleinen Augenbalken. Für "Bild" stand fest, dass alles stattgefunden hat. Es hat sich aber herausgestellt, dass die Geschichte der Jugendlichen komplett erfunden war. Das wurde durch Videoaufzeichnungen nachgewiesen. Diese Geschichte wurde massenweise von AfD-Kreis- und Landesverbänden und AfD-Politikern weiterverbreitet – oft noch wutschnaubender als die "Bild"-Geschichte. So liefert "Bild" der Partei tolle Vorlagen, die sie dankbar aufgreift, um die Botschaft zu verbreiten: Seht her, die Geflüchteten sind doch alles Kriminelle.

STANDARD: Am Beginn der Flüchtlingskrise 2015 hat "Bild" auf eine Willkommenskultur gesetzt, die später einer vor "Wut schnaubenden Verabschiedungskultur" gewichen ist, schreiben Sie. Wie ist es zum Sinneswandel gekommen?

Tschermak: Schwer zu sagen, wir waren bei den Redaktionssitzungen nicht dabei. Es gibt eine öffentliche Äußerung von Julian Reichelt, wo er sagt, dass "Bild" wirtschaftlich nichts so sehr geschadet habe wie dieser "Refugees-Welcome-Kurs". Zugespitzt gesagt: Da haben sie einmal ein freundliches Gesicht gezeigt, die Leute haben ihnen das übelgenommen. Das lässt sich wohl in die Motivation umlegen, dass es jetzt nur noch heißt "Abschieben, Abschieben, Abschieben". Man hat gesehen, die Leute willkommen zu heißen klappt aus wirtschaftlicher Sicht nicht, also schlagen wir lieber den anderen Kurs ein.

Schönauer: Sieht man sich die Geschichte von "Bild" an, so ist das nicht unplausibel. Vielleicht ist es einfach so simpel: Angst verkauft sich besser als eine freundliche Willkommenskultur.

STANDARD: Liefert "Bild" mit der Corona-Berichterstattung das geistige Futter für die sogenannte "Querdenker"-Bewegung mit Rechtsradikalen und Corona-Leugnern?

Tschermak: Der Grundtenor in den Corona-Berichten über die Maßnahmen der Bundesregierung ist sehr, sehr kritisch. Überspitzt formuliert: Die Regierung und Angela Merkel machen alles falsch. Aus meiner Sicht gibt es eine Parallele zur AfD. Auf der einen Seite findet Julian Reichelt, und das glaube ich ihm auch, diese "Querdenker"-Bewegung schrecklich, weil da auch Leute mit Reichskriegsflaggen mitlaufen, was jenseits von allem ist, was noch in Ordnung ist, und dort viel wirres Zeug erzählt wird, aber inhaltlich gibt es sehr wohl eine große Nähe. Vielleicht nicht in der extremen Auslegung wie in dieser "Querdenker"-Bewegung mit den heftigsten Verschwörungsmythen. Die findet man in "Bild" nicht. Das permanente, wiederholte Anprangern der Virologen, die die Bundesregierung beraten, und deren Entscheidungen, die aus Sicht von "Bild" immer falsch sind, das passt aber sehr gut zu dieser Bewegung.

Es gibt zum Beispiel Vorgänge, dass die Pegida-Bewegung, die vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuft wurde, gerne auf "Bild" zurückgreift. Eine regionale Pegida-Gruppe hat sich vor ein paar Jahren überhaupt nicht mehr die Mühe gemacht, eigene Plakate zu drucken, sondern die haben bei ihren Veranstaltungen einfach ganze "Bild"-Seiten aufgehängt, weil das inhaltlich so sehr passte. Das ist wie ihre eigene Propagandaschrift, und sie können sich auch noch Druckkosten sparen. Das könnte man sich analog auch bei den "Querdenkern" vorstellen.

STANDARD: Ist Virologe Christian Drosten immer noch das Feindbild, nachdem er im Mai 2020 eine Anfrage eines "Bild"-Redakteurs veröffentlicht hatte und der Zeitung tendenziöse Berichterstattung vorgeworfen hatte?

Tschermak: Macht man so etwas öffentlich, geht man auf größte Konfrontation mit der "Bild"-Redaktion. In der Amazon-Doku über "Bild" kann man beobachten, dass Julian Reichelt direkt in der Charité, Drostens Arbeitgeber, angerufen hat. Blöderweise war in dem Mail, das Drosten veröffentlicht hat, die Handynummer des "Bild"-Redakteurs zu sehen, was wirklich nicht in Ordnung war. Drosten hat das dann gelöscht und ohne Handynummer noch einmal veröffentlicht. Das Vorgehen hat für Aufruhr in der Redaktion gesorgt, keine Frage. Jetzt ist es um Christian Drosten ruhiger geworden. Was wohl daran liegt, dass sich "Bild" auf andere Leute oder das Robert-Koch-Institut allgemein stürzt, die inhaltlich den Kurs fahren, vorsichtig zu sein, bis die Inzidenzen weiter runtergehen. Das passt überhaupt nicht zur "Bild"-Linie, wo es eher heißt: Öffnen, öffnen, öffnen, denn die Intensivbetten sind ja noch nicht so voll.

STANDARD: Um Drosten ist es jetzt ruhiger geworden?

Tschermak: Drosten taucht auch jetzt immer wieder einmal kritisch beäugt auf, aber nicht mehr so massiv wie zu dieser Geschichte, dass angeblich seine "grob falsche" Studie, wie das "Bild" behauptete, zu Kindergartenschließungen geführt habe. Eine Kausalität, die auf der Titelseite dargestellt wurde, die im Blatt selbst überhaupt nicht gehalten werden konnte. Zuvor gab es bereits seit einigen Wochen eine Kampagne gegen ihn, das haben wir auch im "Bildblog" detailliert dargestellt. In der Form gibt es das aber derzeit nicht. Drosten hat eine Verschnaufpause, aber sicher ist man nie.

STANDARD: Womöglich, weil er so beliebt ist und es die Leser nicht goutieren, wenn er attackiert wird?

Tschermak: Wobei gerade das dazu beigetragen haben könnte, dass Christian Drosten zu so einer negativen Figur in der "Bild"-Berichterstattung wurde. Es gibt eine große Skepsis bei Julian Reichelt gegenüber Leuten, denen erstmal die Herzen zufliegen. Drostens Einfluss auf die Bevölkerung, sei es über die Politik oder seinen erfolgreichen Podcast, war "Bild" wohl etwas zu groß und suspekt.

STANDARD: Wie groß ist der Einfluss wirklich, den "Bild" auf die Politik hat? Wird er überschätzt? Die Reichweite der Printausgabe sinkt kontinuierlich, auf der anderen Seite legt bild.de immer mehr zu.

Schönauer: Ich glaube nicht. Die Macht von "Bild" ist ungeschlagen. Sie ist trotz sinkender Auflagenzahlen konstant geblieben, vielleicht hat sie sogar zugenommen. "Bild" ist immer noch mit Abstand die größte Zeitung Deutschlands und erreicht laut eigenen Angaben mit jeder Ausgabe sieben Millionen Menschen. Das schafft kein anderes Medium. Dazu kommt, dass andere, auch seriöse Medien immer noch von "Bild" abschreiben – oft ungeprüft. So multiplizieren sie die Geschichten und: Politiker lesen und glauben "Bild". Es gibt ganz viele Geschichten, wo "Bild" die Reaktionen von Politikern auf "Bild"-Geschichten zitiert. Viele Politiker hinterfragen gar nicht, ob eine "Bild"-Geschichte überhaupt stimmt, sondern geben sofort ihren Senf dazu. Das alles führt dazu, dass "Bild" eine enorme Meinungsmacht hat. Was "Bild" heute schreibt, steht fünf Minuten später überall.

Tschermak: Es gibt aber auch das eine oder andere Gegenbeispiel, das wollen wir nicht verschweigen. Bei der CDU gab es in letzter Zeit mehrere Wahlen zum Parteivorsitz. Bei der vorletzten Entscheidung standen Annegret Kramp-Karrenbauer, Jens Spahn und Friedrich Merz zur Wahl. Zu beobachten war ein "Merz-Infarkt" mit größter Stimmungsmache für Friedrich Merz. Auf allen Ebenen. Im Politikteil, aber auch bei einer Geschichte über gute Weine unter sieben Euro. Der Einstieg in den Artikel lautete, dass Merz zwar genügend Geld habe, aber gerne auch einmal einen Wein um 4,99 Euro trinke. Sonst kommt kein anderer Politiker vor. Letztendlich hat Merz den Posten trotz "Bild"-Einsatzes nicht bekommen. Es klappt eben auch nicht alles, was "Bild" politisch anfasst und versucht. Aber es gibt die Versuche, Politik zu machen, und die sind mitunter auch erfolgreich.

STANDARD: Jetzt auch im Fernsehen.

Tschermak: Wenn man sich das neueste Projekt "Bild Live", also den eigenen TV-Auftritt ansieht, der bis zur Bundestagswahl im September als eigener Fernsehkanal laufen soll, dann schauen wirklich alle großen Politikerinnen und Politiker vorbei – bis auf die Bundeskanzlerin und den Bundespräsidenten war fast alles bereits da, was Rang und Namen hat. Wenn "Bild" ruft, kommen schon auch die großen Namen vorbei.

STANDARD: Apropos TV-Sender: In Ihrem Buch kritisieren Sie auch die Berichterstattung von "Bild Live" zur Terrornacht in Wien, die in wilden Spekulationen gemündet hat. Was ist da aus dem Ruder gelaufen?

Tschermak: Bei "Bild Live" gibt es erstmal geplante Sendungen wie den Polittalk "Die richtigen Fragen" am Sonntag um 21.45 Uhr. Das funktioniert aus "Bild"-Sicht gut, weil große Namen kommen und für Aussagen sorgen, die in den nächsten Tagen für Schlagzeilen sorgen. Problematisch wird es, wenn es Breaking-News-Situationen gibt. Wenn zum Beispiel irgendwo ein Terroranschlag stattfindet. Der Anschlag von Wien ist eines der eindrucksvollsten Beispiele, was da alles schiefläuft. Hier entsteht eine unheilvolle Allianz aus der fast schon traditionell mangelhaften Recherche der "Bild"-Medien und der Live-Situation. Die Kamera läuft, und es gibt einen Zwang, etwas zu erzählen und etwas zu zeigen.

STANDARD: Im Falle von Wien wurde einfach munter drauf los spekuliert?

Tschermak: Diese Situation führt dazu, dass Paul Ronzheimer, stellvertretender Chefredakteur, und Moderatorin Nele Würzbach mehrere Stunden im Studio stehen und ein Gerücht nach dem anderen verbreiten. Die haben sich fast zu 100 Prozent im Nachhinein als falsch erwiesen. Da wird erzählt, dass es eine Geiselnahme in einem Restaurant und in einem Hotel gibt, was nicht der Fall war, oder von Schüssen an anderen Orten. Videos werden eingespielt, wo die Polizei Leute jagt, die wie Terroristen aussehen. Das waren aber Aufnahmen aus Barcelona und hatte nicht einmal etwas mit Terror zu tun. Und so gab es in diesen vier Stunden ein falsches Gerücht nach dem anderen. Das ist gefährlich und problematisch, weil es zu großer Unsicherheit führt. Man lechzt nach vertrauenswürdigen Informationen, und "Bild" macht exakt das Gegenteil. Das hat nicht ansatzweise etwas mit Journalismus zu tun, sondern ist ein Weitertratschen von dem, was man in Social Media aufgeschnappt hat. Mit dem Unterschied, dass man es einem richtig großen Publikum serviert. (Oliver Mark, 19.5.2021)