Papyri geben uns unverfälschte und unzensurierte Einblicke in das Leben der Menschen vor vielen Jahrhunderten. Bisweilen lesen wir auf Papyrus auch Texte, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Artemisias Papyrus ist einer davon. Ihr Schreiben ist überhaupt nicht an Menschen gerichtet, sondern an Adressaten göttlicher Natur: Osiris-Apis und die mit ihm im Tempel von Memphis verehrten Götter.

P. Vindob. G 1 – Die Klage der Artemisia (Memphis, 4. Jh. v. Chr.)
Österreichische Nationalbibliothek

An diese wendet sich Artemisia wegen eines schweren ihr widerfahrenen Unrechts. Ihre Tochter ist tot. Und als wäre dieser Schicksalsschlag nicht genug: Der Vater ihrer Tochter – bezeichnenderweise nennt sie weder seinen Namen, noch spricht sie von ihm als ihrem Ehemann – der Vater habe die Tochter des Grabes und der Grabbeigaben beraubt. Nun soll das Göttertribunal für Gerechtigkeit sorgen!

Wird der Mann dieses schweren Frevels überführt, so soll auch er selbst kein Grab erhalten und möge auch seine Eltern nicht begraben können. Überhaupt soll er auf das Schlimmste zugrunde gerichtet werden, er selbst und sein Besitz, zu Land und zu Wasser, und niemals möge er Gnade finden. Dieses Urteil erbittet Artemisia von den Göttern und es möge so lange gelten, solange Artemisias Schriftstück im Tempel verwahrt wird. Wer aber den Papyrus fortnimmt, den soll die Strafe der Götter treffen.

Begräbnis als teure moralische Verpflichtung

Was steht hinter dieser Geschichte? Die von Artemisia ersehnte Sühne wird ausführlich beschrieben, der Schuldvorwurf ist dagegen nur knapp formuliert: Der Vater habe die Tochter des Grabes beraubt. Gemeint ist wohl nicht wörtlich ein Grabraub. Die drastische Formulierung steht vermutlich dafür, dass der Vater seiner Tochter das angemessene Begräbnis vorenthielt – es vermutlich einfach nicht finanzierte, oder zumindest nicht in dem erwarteten Ausmaß. Das war freilich keine Kleinigkeit. Wer keine gebührende Bestattung erhielt, dessen jenseitiges Leben war in Gefahr. Musste Artemisia ohnehin schon den Tod ihrer Tochter betrauern, sollte sie nun auch noch um deren Weiterleben im Jenseits fürchten. Kein Wunder also, dass sie dem geizigen Vater jegliches Unheil an den Hals wünschte.

Die für ein Begräbnis aufzuwendenden Mittel konnten durchaus eine beträchtliche Höhe erreichen. Doch war es für die Hinterbliebenen eine moralische Verpflichtung, ihre verstorbenen Verwandten gut ins Jenseits hinüberzuleiten. Geradezu der Inbegriff dieser Bestattungspflicht ist die Figur der Antigone aus der griechischen Mythologie. Die Tochter des Ödipus setzte sogar ihr eigenes Leben aufs Spiel, um ihren toten Bruder entgegen dem ausdrücklichen Befehl des Königs von Theben angemessen zu bestatten, „denn mehr Zeit ist es nötig, denen da unten zu gefallen, als denen hier“ (Soph. Ant. 74–75). Vernachlässigten die Angehörigen diese Pflicht, luden sie nicht nur größte moralische Schande auf sich, sondern auch den Zorn der jenseitigen Mächte.

Antigone beim Begräbnisritus ihres Bruders (Lenepveu, 19. Jh.)
Metropolitan Museum of Art, NY, Acc.Nr. 1991.267

So ist es geradezu folgerichtig, dass sich Artemisia Sühne durch eine göttliche Strafe versprach. Wohl nicht zufällig enthält ihr Schreiben an die Götter zahlreiche Wendungen und Begriffe, die auch aus einer gerichtlichen Klageschrift stammen könnten. Ihre Worte suggerieren, sie habe gleichsam einen Rechtsanspruch auf ein entsprechendes Urteil der Götter. Sie verlangt nicht mehr und nicht weniger als Gerechtigkeit. Diese soll primär durch Anwendung der Talion hergestellt werden. Das schon aus dem Codex Hammurapi (§§ 196ff) und dem Alten Testament (Ex. 21, 23–25) bekannte Talionsprinzip vergilt Gleiches mit Gleichem: Auge um Auge, Zahn um Zahn – und wer anderen ein Begräbnis vorenthält, soll selbst nicht begraben werden. Diese Strafe soll nun aber nicht ein weltliches, sondern ein göttliches Gericht verfügen. Möglicherweise war die Tat des Mannes eben kein Verstoß gegen Gesetze, sondern gegen die Moral – und ein Frevel gegen die Götter, den diese folglich sühnen würden.

In dieser Hinsicht stimmig gewählt erscheint auch der Gott, an den sich Artemisia wendet: Osiris-Apis (ägyptisch Wsjr-Hp, im Griechischen wiedergegeben als Oserapis).

Apis-Stier, 664-343 v. Chr.
Metropolitan Museum of Art, NY, Acc.Nr. 17.190.62

Schon seit der ägyptischen Frühzeit wurde in Memphis der heilige Apisstier verehrt. Es gab immer nur einen Apis, der mehrere äußere Zeichen aufweisen musste: darunter ein schwarzes Fell mit einem weißen Dreieck auf der Stirn, ein adlerförmiges Mal am Rücken, gespaltene Schwanzhaare und ein Skarabäus-Mal unter der Zunge (Hdt. 3, 28). Starb ein Apisstier, trauerte das ganze Land für siebzig Tage, in denen das Tier einbalsamiert und anschließend in den ausgedehnten unterirdischen Anlagen des Serapeums feierlich bestattet wurde. Der verstorbene Stier wurde mit Osiris identifiziert und als Osiris-Apis verehrt. Osiris-Apis wachte wie Osiris selbst über das Totenreich. Als Totengott beaufsichtigte er Bestattung und Totenkult der Menschen, war also für ein Vergehen gegen die Bestattungspflichten gleichsam der „zuständige Richter“.

Papyrus in griechischer Sprache

In einem anderen Aspekt ist Artemisias Hinwendung zu Osiris-Apis durchaus überraschend: Artemisia ist gar keine Ägypterin, sie ist Griechin. Nicht nur trägt sie einen griechischen Namen, der sich von der Göttin Artemis ableitet, sie verfasst auch ihre Bittschrift an Osiris-Apis in griechischer Sprache. Wie selbstverständlich geht sie davon aus, dass die altehrwürdigen ägyptischen Götter auch des Griechischen mächtig waren.

Wie kommt es, dass eine Griechin Hilfe bei Osiris-Apis sucht? In Folge der Eroberung Ägyptens durch Alexander den Großen (332 v. Chr.) siedelten sich vermehrt Griechinnen und Griechen im Land an, später wurde das Griechische zur Verwaltungs- und Verkehrssprache. Ab dem 3. Jh. v. Chr. werden dem entsprechend die Papyri in griechischer Sprache zur Normalität. Artemisias Papyrus ist aber älter. Er stammt noch aus der Zeit vor oder kurz nach der Alexandrinischen Eroberung. Damit ist Artemisias Klage der zweitälteste erhaltene Papyrus in griechischer Sprache und ein besonders wertvolles Zeugnis für die frühe griechische Schreibschrift. Die Buchstabenformen erinnern noch stark an jene der Steininschriften: Sie stehen einzeln und aufrecht und sind zumeist aus geraden Strichen zusammengesetzt, wie es sich bei Inschriften zwangsläufig ergibt. Die griechische Kursivschrift entwickelte sich erst später.

Ausschnitt aus Artemisias Klage im Vergleich mit einem Papyrus aus dem 2. Jh. v. Chr.
P.Vindob. G 57704

Die Griechin Artemisia war schon im 4. Jh. v. Chr. in Ägypten zu Hause. Damals gab es eine kleine griechische Gemeinde in der ägyptischen Metropole Memphis, die Hellenomemphiten. Es waren Nachfahren griechischer Söldner, die für die Pharaonen der 26. Dynastie kämpften und denen Pharao Amasis zugestand, sich in Memphis niederzulassen. Wohl nicht zufällig trug Artemisias Vater den Namen Amasis, nach eben jenem Pharao, der Ägypten für griechischen Einfluss und Zuwanderung öffnete. Artemisia war also eine Ägypterin mit Migrationshintergrund. Ihr Papyrus führt anschaulich das Spannungsfeld zwischen dem Verharren in den griechischen Traditionen und der Assimilation an die einheimische ägyptische Lebensweise vor Augen. Sie verwendet die griechische Sprache und sogar aus den griechischen Inselstaaten stammende Redewendungen wie „zu Land und zu Wasser“ – eine Formulierung, die auf dem ägyptischen Festland kaum noch Sinn machte und dort auch schnell aus dem griechischen Sprachgebrauch verschwand. Dennoch sucht sie in ihrer Not Schutz bei einer seit Jahrtausenden verehrten altägyptische Gottheit.

Artemisias Hinwendung zu Osiris-Apis ist angesichts des späteren Verlaufs der Geschichte besonders interessant: Eben jene lokale Gottheit Osiris-Apis war es, für die unter Ptolemaios I. Soter ein Tempel in Alexandria errichtet wurde. Der nun mit einem menschlichen Antlitz versehene, neue und gleichzeitig alte Gott Sarapis gewann bei den Griechinnen und Griechen rasch an Popularität. Bald wurde Sarapis über die Grenzen Ägyptens hinaus in der gesamten hellenistischen Welt bekannt und beliebt. Noch viele Generationen von Griechinnen und Griechen und Römerinnen und Römern sollten Sarapis als den „ihren“ verehren.

Sarapis-Statuette, 2. Jh. n. Chr
Metropolitan Museum of Art, NY Acc.Nr. 53.191.2

Artemisia konnte davon noch nichts wissen. Sie lebte in Ägypten unter Ägypterinnen und Ägyptern und suchte Hilfe bei einem ägyptischen Gott. Dabei wirkt ihre griechische Bitte an Osiris-Apis wie ein Fingerzeig auf die bevorstehende Entwicklung.

Wie von Artemisia vorgesehen, verblieb ihr Papyrus im Tempel des Osiris-Apis – und zwar mehr als 2.000 Jahre, bis er über Umwege an die k. k. Hofbibliothek gelangte. Nun wird die Klage der Artemisia im Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek gezeigt. Dort war sie bereits vor 174 Jahren zu sehen: Ab 1847 wurden im Großen Saal der Hofbibliothek ihre wertvollsten und außergewöhnlichsten Zimelien für die Besucherinnen und Besucher ausgestellt, unter diesen der Papyrus der Artemisia. Damals freilich war ein griechischer Papyrus schon an sich eine Seltenheit. Die ersten großen Papyrusfunde wurden erst in den 1880er Jahren gemacht. Davor waren kaum Papyri bekannt, entsprechend aufsehenerregend war dieses Unikat.

Rudolf von Alt, Großer Saal der k. k. Hofbibliothek, 1884
BA 92.469

Ein Unikat ist die Klage der Artemisia bis heute geblieben, trotz der tausenden seither bekannt gewordenen Papyri aus Ägypten. Nicht nur ihre frühe Datierung, die Schrift und ihr kultur- und religionsgeschichtlicher Informationswert sind bislang ohne Parallelen, wie kein zweiter Papyrus ziehen die Worte der Artemisia Leserinnen und Leser nach wie vor in ihren Bann. Die darin spürbare Fülle an Emotionen, die Trauer über den Verlust der Tochter, der Zorn über das erlittene Unrecht und die Sehnsucht nach Rache machen das an sich unscheinbare Blatt Papyrus zu einem Stück lebendiger Geschichte. (Claudia Kreuzsaler, 7.6.2021)

Die Klage der Artemisia in Transkription
Österreichische Nationalbibliothek

Übersetzung der Klage

„O Herr Oserapis und ihr Götter, die mit Oserapis sitzt!
Es ruft euch an Artemisia, die Tochter des Amasis, gegen den Vater ihrer Tochter, der diese der Grabbeigaben beraubte und des Grabes selbst.
Wenn er nun wahrlich recht tat mir und seinen eigenen Kindern, so sei er gerechtfertigt. Sofern er wahrlich unrecht tat mir und seinen eigenen Kindern, so mögen Oserapis und die Götter dafür sorgen, dass er kein Grab von seinen Kindern erhalte und dass er selbst seine eigenen Eltern nicht begrabe!
Solange diese Anklage hier liegt, soll er übel zugrunde gerichtet werden zu Land und zu Wasser, er selbst und seine Habe, von Oserapis und den Göttern, die im Haus des Oserapis sitzen. Auch möge ihm keine Gnade von Seiten des Oserapis oder der Götter, die mit Oserapis sitzen, zuteil werden.
Artemisia hat diese Bittschrift niedergelegt, in der sie Oserapis anfleht, darüber ein Urteil zu sprechen – ihn und die Götter, die mit Oserapis sitzen.
Solange diese Bittschrift hier liegt, soll keinerlei Gnade der Götter zuteil werden dem Vater des Mädchens. Wer aber diese Schrift fortnimmt und unrecht tut der Artemisia, dem möge der Gott die gerechte Strafe auferlegen.“

Österreichische Nationalbibliothek

Claudia Kreuzsaler ist Stellvertretende Direktorin der Papyrussammlung

Literatur

Kreuzsaler, Claudia: Tote ohne Begräbnis – Die Klage der Artemisia, in: Zdiarsky, Angelika (Hg.), Wege zur Unsterblichkeit. Altägyptischer Totenkult und Jenseitsglaube, Nilus 20, Wien 2013, 45–53.

Kreuzsaler, Claudia, Zdiarsky, Angelika: Artemisias Klage. Von den Anfängen einer Papyrussammlung in der k. k. Hofbibliothek, Forschungsblog vom 25. 1. 2018.

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