Im Fall von Gewalt sollten Verletzungen schnell untersucht und dokumentiert werden.

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Erniedrigungen, Beleidigungen, ständiger Kontrollwahn: Sandra H. war in ihrer Beziehung zu ihrem Mann vieles gewohnt. Vor ziemlich genau fünf Jahren eskalierte die Situation erneut. Sandra H. und ihr Mann stritten diesmal im Auto, so heftig, dass sie nicht mehr weiterdiskutieren und aussteigen wollte. Als sie die Tür öffnete, trat er aufs Gaspedal. "Nur dank des Sicherheitsgurts bin ich nicht rausgefallen und überfahren worden", erzählt sie. Sichtbare Verletzungen trug sie nicht davon – zumindest nicht sichtbar genug. Bei der Polizei sagte man ihr, man könne nichts für sie tun, "solange es keine Beweise gibt". Und gab ihr den Rat mit, sie solle auf sich schauen.

Wird man mir glauben? Diese Frage stellen sich Opfer von Übergriffen und Gewalt häufig – und sie hält viele davon ab, ihre Erlebnisse öffentlich zu machen. Rund 900 Frauen haben 2019 in Österreich eine Vergewaltigung angezeigt, im selben Zeitraum kam es nicht einmal zu 100 Verurteilungen. Oft steht in diesen Fällen Aussage gegen Aussage. Dann heißt es im Zweifel für den Angeklagten – Freispruch.

Gewaltprävention fängt mit objektiven Daten an, sagt Kathrin Yen, Ärztliche Direktorin am Institut für Rechts- und Verkehrsmedizin am Universitätsklinikum Heidelberg, wo auch eine rund um die Uhr erreichbare mobile Gewaltambulanz angesiedelt ist. Wer ist das Opfer? Welche Folgen der Gewalt liegen vor, und wie schwer war diese? Nur wenn das gesichert ist, könne man auch wissen, wen man wie schützen kann.

Dafür zentral ist die Sicherung von Spuren indem Verletzungen am Körper des Opfers festgestellt und dokumentiert werden. Diese Notwendigkeit ist auch in Österreich in der Strafprozessordnung gesetzlich verankert und folgt laut Innenministerium den "allgemeinen Grundsätzen" der Beweisaufnahme durch die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte. "Opfer sind in diesem Zusammenhang möglichst vor sekundärer und wiederholter Viktimisierung zu schützen", sagt das Innenministerium auf STANDARD-Anfrage.

Schnelles Handeln

Was für Gewaltopfer die ersten sinnvollen Schritte sind, ist oft nicht bekannt. Das beginnt schon bei der Frage: Wann sollten Betroffene in eine Gewaltschutzambulanz gehen? "Möglichst rasch nach jedem körperlichen oder sexuellen Übergriff, bei dem es zu Verletzungen oder zu einer Übertragung von Spuren gekommen sein kann", sagt Yen. Sie hat die Gewaltambulanz in Graz, die einzige in Österreich, mit aufgebaut. Inzwischen ist aus der 2008 eröffneten klinisch-forensischen Ambulanz eine Untersuchungsstelle geworden, die am Institut für gerichtliche Medizin an der Medizinischen Universität Graz angesiedelt ist.

Dort können Betroffene von Gewalt sich untersuchen und Befunde aufnehmen, im Unterschied zu anderen Einrichtungen aber auch archivieren lassen, ohne dass die Polizei eingeschaltet wird. Entscheidet sich eine betroffene Person zur Anzeige, werden die gesamten Befunde auf Anordnung an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet, sagt Peter Grabuschnigg, supplierender Leiter des Instituts.

In Fällen von Gewalt sei es entscheidend, schnell zu handeln, betont Grabuschnigg: "Ein Hämatom nach Einwirkung stumpfer Gewalt ist in aller Regel nach zwei, drei, maximal zehn Tagen so gestaltet, dass keine sichere Zuordnung zur Art der Gewalteinwirkung mehr getroffen werden kann, die es ausgelöst hat."

Gerichtsmedizin ist "Gewaltmedizin"

Diesen Zeitfaktor betont auch Andrea Berzlanovich, Leiterin Fachbereich Forensische Gerontologie an der Medizinischen Universität Wien: "Diese Spurensicherung ist nur dann verwertbar, wenn die Untersuchung und die Sicherung der Spuren in relativ engem zeitlichem Kontext zum Delikt stattgefunden haben." Ebenso wichtig aber sei Genauigkeit – nämlich die schriftliche, grafische und fotografische Dokumentation aller sichtbaren Verletzungen, "detailliert und für Außenstehende nachvollziehbar zu beschreiben", sagt Berzlanovich.

Für diese Arbeit werden Spezialisten gebraucht, ist Grabuschnigg überzeugt. "Wenn sich ein Allgemeinmediziner nicht ausdrücklich mit dem Thema beschäftigt, hat er das nicht im Repertoire", sagt er. Klinische Ärzte und Ärztinnen hätten eine andere Ausbildung, während Gerichtsmedizin "Gewaltmedizin" sei, bestätigt Yen. "Wir erkennen Gewalt und können einschätzen, wie diese entstanden ist und wie schwer und gefährlich ein Übergriff war", sagt sie. Diese Details zum Tathergang können enorm wichtig sein. "Wenn Polizei oder Staatsanwaltschaft wissen, dass die Betroffene schon einmal in Lebensgefahr war, dann können sie ganz anders tätig werden."

Fachkräften, die im Gesundheitswesen in Kontakt mit Betroffenen kommen, soll die im Herbst präsentierte Opferschutzgruppen-Toolbox helfen. Dabei geht es um bessere Behandlung, richtige Dokumentation und ein Hinführen zu Hilfsorganisationen. Was Expert*innen allerdings fordern, ist flächendeckende und mobile Expertise. "Ein Gewaltambulatorium muss schnell zu den Betroffenen kommen. Schon eine ausführliche Dusche kann sämtliche DNA-Spuren beseitigen", sagt Yen. Dass es in Österreich abgesehen von Graz keine einzige Untersuchungsstelle dieser Art gibt, hält sie für katastrophal.

Fehlende Anbindung

Auch Grabuschnigg wünscht sich weitere Einrichtungen wie in Graz. "Stellen Sie sich vor, ein Opfer wohnt abgeschieden und ist nicht gut an den Verkehr angebunden", so Grabuschnigg. "Da wäre eine Einrichtung von flächendeckenden Möglichkeiten zur Diagnostik durch kompetente Stellen notwendig." In den kürzlich beschlossen Gewaltschutzmaßnahmen findet sich allerdings nichts zum Ausbau solcher Einrichtungen.

Sandra H. hat sich 2017 von ihrem Ehemann scheiden lassen. "Was wäre, wenn ich ihm weiterhin wieder und wieder verziehen hätte?", überlegt sie heute. Kurz nach der Scheidung hat sie von mehreren Femiziden erfahren. "Da dachte ich mir: Ich könnte es auch sein." (Ana Grujić, Beate Hausbichler, Noura Maan, 21.5.2021)