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PRO: Verheerende Symbolik

von Fabian Schmid

Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich, vor der Bevölkerung aber nicht: Wer sich in ein Spitzenamt begibt und viel Macht in Händen hält, muss Demut zeigen und akzeptieren, dass besondere Maßstäbe gelten.

Ein Kanzler, Finanzminister oder Landeshauptmann kann durch seine Entscheidung enorm in das Leben der Millionen Menschen in Österreich eingreifen, siehe Corona-Lockdowns oder Steuerpolitik. Es ist daher wichtig, dass ein gewisses Vertrauen zwischen Bevölkerung und Regierenden herrscht. Dazu gehört vonseiten der politisch andersdenkenden Wähler, nicht immer das Schlechteste von der Regierung anzunehmen. Der Amtsinhaber sollte aber vorbildhaft agieren und dem Schutz der Institutionen Priorität einräumen. Es ist dabei völlig egal, ob es sich um Sebastian Kurz, Gernot Blümel, Hans Peter Doskozil oder Norbert Hofer handelt.

Im Fall einer Anklage geht die Staatsanwaltschaft zu mehr als fünfzig Prozent davon aus, dass eine Verurteilung folgt. Glücklicherweise gilt in einem Rechtsstaat nach wie vor die Unschuldsvermutung; die ist allerdings keine politische Kategorie. Ein Kanzler, Nationalratspräsident oder Abgeordneter, dem im Gerichtssaal "der Prozess gemacht wird", hat eine verheerende Symbolik. Solch ein Vorgang würde die Polarisierung verstärken und das Misstrauen jener, die nicht ÖVP – oder, im Fall des Burgenlands, SPÖ – gewählt haben, weiter befeuern. Ein verantwortungsvoller Politiker wüsste daher, was zu tun ist. (Fabian Schmid, 21.5.2021)

KONTRA: Geist der Vorverurteilung

von Gerald John

Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich, gebietet die Verfassung. Das gilt für den Hendldieb genauso wie für den Regierungschef. Keine Ausnahme darf es dabei für ein Prinzip geben, das von der Europäischen Menschenrechtskonvention garantiert wird: Bis zum Nachweis seiner gesetzlichen Schuld – einer rechtskräftigen Verurteilung vor Gericht – wird vermutet, dass ein Angeklagter unschuldig ist.

Wer fordert, dass Kanzler Sebastian Kurz bereits bei einer Anklage wegen Falschaussage im U-Ausschuss zwingend abtreten muss, untergräbt die Unschuldsvermutung. Hinter dieser "roten Linie" lauert der Geist der Vorverurteilung. Stammtischtaugliches Motto: Irgendwas wird schon dran sein.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Das bedeutet nicht, dass Politiker per se nur dann gehen sollten, wenn ein Gerichtsurteil vorliegt. Wollen die Opposition oder auch der grüne Koalitionspartner Kurz’ Abgang, dann sollen sie dies mit der Sachlage begründen – das ist eine Frage der politischen und moralischen Bewertung. Knüpfen die Kritiker des Kanzlers ihre Forderung aber an den Umstand der Anklage, tun sie so, als wäre ihr Standpunkt mit juristischen Beweisen belegt worden. Doch das ist eben nicht der Fall. Oft genug halten Anklagen vor Gericht nicht stand. Ein Verdacht, so begründet dieser auch sein mag, darf nicht zum Urteil werden. (Gerald John, 21.5.2021)