Jetzt rollen Gepäck und Koffer wieder in die Zimmer und Suiten, so wie hier im Hotel Sacher in Wien.

Foto: Heribert Corn www.corn.at

Mann. Wie sehr ich Hotelaufenthalte vermisst habe. Überhaupt das Reisen. Schon seit Monaten bin ich – genau wie alle anderen (Kulturschaffenden) – mehr oder weniger gefangen im selbstdefinierten und -dekorierten Wohn-, Arbeits- und Onlineraum. Der mag sich zu Beginn der Pandemie ja noch angenehm entschleunigend angefühlt haben, in letzter Zeit ist er aber nur noch Gefängnis.

Während ich diesen Artikel schreibe, hat noch fast alles zu. Wieder einmal ist harter Lockdown in Österreich. Für die Gastronomie und Hotellerie, die sich seit November letzten Jahres im Shutdown-Modus befinden (von Ausnahmen wie Businessreisen einmal abgesehen), längst ein bekanntes Szenario. Meine spärlichen beruflich bedingten Hotelbesuche, etwa in Linz und Wien, fühlen sich surreal und künstlich an. So gar nicht nach Hotel, nach Auszeit, nach Ankommen.

Und surreal ist es ja auch. Ein wenig wie in Stephen Kings Romanklassiker The Shining – erwarten einen doch leere Gänge, staubige Stille und maximal einzelne andere Verlorene, die leiser als sonst, zögerlicher, verhaltener agieren. Als würde man selbst (ver)schwinden wollen im allgemeinen Schwund. Doch endlich ist Hoffnung in Sicht!

Zweites Zuhause

Für Literatinnen und Künstler sind Hotels das zweite Zuhause. Nicht nur, weil sie dort übernachten müssen, wenn Lesungen, Drehs, Konzerte und andere Veranstaltungen anstehen. Nein, Hotels sind weit mehr als zweckerfüllende Absteigequartiere und schnöde Durchreisestationen, sie sind gleichzeitig Kaffeehaus, Wohnzimmer, Inspirationsquelle, Denk- und Schreibstube, sicherer Rückzugsort, anonymes Versteck, ja sogar Heimat.

Manch berühmter Schöpfergeist residierte jahrzehntelang oder gar bis zum Tod in solch einer Zweit- und Wahlheimat, die im besten aller Fälle sogar zum lebenslangen Lieblingshotel mutiert.

Man denke etwa an Modefürstin Coco Chanel, die fast 40 Jahre lang im Pariser Grandhotel Ritz verbringt, wo sie auch stirbt. An Rockmusiker und Maler Udo Lindenberg, der das Atlantic Kempinski in Hamburg nach 17 Jahren schweren Herzens wegen Covid-19 verlässt (er darf dort als Einziger rauchen und mitten in der Nacht das Hallenbad benutzen). An Schriftsteller Oscar Wilde, der seinerzeit im Hotel Savoy in London seine Liebesaffäre mit dem jungen Lord Douglas auslebt.

Oder an Österreichs vielleicht berühmtesten Hotelbewohner, Opernfürst Marcel Prawy, der zwischen Unmengen von alten Musikheften, Noten und Opernprogrammen – allesamt feinsäuberlich in Tausenden von Plastiksackerln archiviert – von 1992 bis zu seinem Tod 2003 in einem kleinen Zimmer im Hotel Sacher logiert.

Gastfreundschaft im Blut

Das Hotel Wolfinger in Linz: Zimmer Nummer 32 ist Daniela Emmingers Lieblingszimmer.
Foto: Daniela Emminger

Zwei meiner persönlichen Lieblingshotels sind das Wolfinger in Linz und das Hotel Orient in Wien. Und um genau die geht es in diesem Liebesbrief. "Die Gäste gehen mir am allermeisten ab", beginnt Wilhelm Dangl, Geschäftsführer des Wolfinger am Hauptplatz in Linz, unser Gespräch, "zumal wir ja normalerweise 365 Tage im Jahr, 24 Stunden am Tag für sie da sind."

Die Hotellerie ist sein Leben, die Gastfreundschaft liegt dem weitgereisten Spross der Linzer Wirtshaus- und Hotelleriefamilie Dangl im Blut. "Im Moment sehne ich mich sogar nach Kofferschleppen und kapriziösen Gästelaunen", lacht er. Umso mehr freut er sich jetzt auf den bevorstehenden Großfrühjahrsputz und die Wiedereröffnung im Mai.

Auch im Shutdown ist Dangl an sechs von sieben Wochentagen zur Arbeit gefahren, hat Kontrollrunden durchs Haus absolviert, das Heißwasser aufgedreht, kleinere Restaurierungs- und Wartungsarbeiten überwacht und Anfragen beantwortet, die manchmal auch mitten in der Nacht kommen.

Persönliche Lieblingshotels

Schon immer ist die Adresse Hauptplatz Nr. 19 bei Kulturschaffenden und berühmten Persönlichkeiten das beliebteste Wohn- und Übernachtungsziel in der oberösterreichischen Landeshauptstadt. Hunderte von Literaten, Musikerinnen und Schauspielerinnen sind über die Jahrhunderte hier abgestiegen.

Bis ins 15. Jahrhundert zurück reicht die Geschichte des Beherbergungsbetriebs, ein ehemaliges Kloster, das 1974 von der Familie Dangl übernommen wurde. "Die Dokumentation berühmter Hotelgäste haben wir in der Tat etwas vernachlässigt", gesteht Dangl, "aber mit dem Name-Dropping haben wir es generell nicht so, viele Gäste wollen inkognito bleiben. Wir respektieren das."

Und doch entdecke ich beim Durchforsten der wenigen vorhandenen historischen Aufzeichnungen und Gästebücher ein paar klingende Namen und Dankesschreiben: Fürst Metternich war hier, die kaiserliche Hoheit Erzherzog Johann, Stammgast Anton Bruckner. Oder, um die Zeit etwas voranzupeitschen: Klaus Maria Brandauer, Anastacia, Georg Danzer, Wolfgang Ambros, Helge Schneider, Jazz Gitti, Christiane Hörbiger, Roberto Blanco, Adele Neuhauser, Papa der Nation Van der Bellen, Manuel Rubey und Günter Grass, der anlässlich einer Lesereise zu Die Rättin 1986 sogar einen Nager ins Buch gekritzelt hat. Auch meine Wenigkeit war schon das eine oder andere Mal hier zu Gast.

Mundpropaganda

Und fragt man heute befreundete KollegInnen, wo man in Linz übernachten soll, heißt die Antwort Wolfinger. Warum ist das so? Dangl erklärt sich den großen Zulauf an Kulturschaffenden mit dem unaufgeregten familiären Miteinander, der zentralen Lage, den seit jeher engen Beziehungen zu einschlägigen Kulturinstitutionen und -festivals wie Stifter-, Brucknerhaus oder Pflasterspektakel und wohlwollender Mundpropaganda.

Ich würde dem noch die denkmalgeschützten Pawlatschengänge im Innenhof, die sensationellen Ausblicke auf Hauptplatz und Schloss und natürlich den honorigen Herrn Maurer von der Rezeption hinzufügen, den wirklich nichts aus der Ruhe bringt.

Ich selbst wohne am liebsten in Zimmer 32, das Dangl und ich jetzt anvisieren. Seit dem letzten Gast Anfang November 2020 ist im Hotel alles, wie es war: Sämtliche Betten sind bezogen, die Pölster auf den Sofas aufgeschüttelt, lediglich ein dünner Staubfilm zeugt vom Dornröschenschlaf der letzten Monate.

Hans Christian Andersen zu Gast

Wie sich herausstellt, hat anno 1863 auch ein gewisser Hans Christian Andersen auf einer seiner 29 ausgedehnten Reisen in diesem Raum Quartier bezogen. Sechsmal hat der berühmte Kunstmärchenerzähler Österreich besucht, zuletzt in den Jahren 1869 und 1872, in denen zahlreiche autobiografische Texte und Reiseberichte entstanden sind. Damals hieß das Wolfinger noch Gasthof zum Goldenen Löwen, war um ein Stockwerk niedriger, verfügte über 18 statt 48 Zimmer und bestimmt auch über weniger Komfort.

Im Hinterhof, wo man heute über Pawlatschen zu den Standardzimmern gelangt, wurde gewaschen, gekocht, geräuchert, damit die Reichen im Herrschaftstrakt am Hauptplatz ihre Ruhe hatten. Ich setze mich an den Schreibtisch, die Biedermeiereinrichtung gibt es immer noch, und denke an den dänischen Ausnahmedichter und Märchenerzähler.

Angeblich ist er immer mit einem Seil verreist, um sich im Falle eines Hotelbrandes aus einem Fenster abseilen zu können. Ich versuche seine literarische Perspektive einzunehmen – und also die Welt aus Sicht eines kleinen Kindes zu betrachten –, die ihn weltberühmt gemacht hat.

Ich blicke aus dem Fenster auf den barocken Linzer Hauptplatz. Wie Miniaturen kommen mir jetzt die Menschen vor, die unten übers Kopfsteinpflaster schreiten, wie Spielzeuge wirken die Straßenbahnen, die leise an mir vorübergleiten. Es ist 18 Uhr. In den Turmspitzen der Stadtpfarrkirche und des Alten Doms vis-à-vis läuten die Glocken.

Genau wie im gleichnamigen Märchen von Andersen: "In den engen Straßen der großen Stadt hörte bald der eine, bald der andere am Abend, wenn die Sonne unterging und die Wolken zwischen den Schornsteinen golden aufleuchteten, einen wunderlichen Laut ... Nun läutet die Abendglocke, sagte man, nun geht die Sonne unter." Jetzt nur nicht aufs Bett legen und einschlafen, sage ich mir.

Die Hotels erwachen aus dem Dornröschenschlaf.
Foto: AFP / Christof Stache

Mitternächtliche Spaghetti

Mein zweites Lieblingszimmer geht nach hinten, mit Blick aufs Linzer Schloss, hinaus. Es hat die Nummer 35 und ebenfalls eine "Promi-Geschichte" zu erzählen. Im Jahr 2006 wird es von Dirty Dancing-Star Patrick Swayze als Künstlergarderobe genutzt.

Er dreht hier den Streifen Jump, der die Geschichte des jüdischen Zahnarztsohns Philipp Halsmann erzählt, der 1928 wegen Vatermordes zu lebenslanger Haft verurteilt, später jedoch begnadigt wird und in den USA zu einem der bekanntesten Fotografen des 20. Jahrhunderts aufsteigt. Besonders berühmt wird er durch sein Jump Book, in dem er Celebritys und Persönlichkeiten von Marilyn Monroe bis Richard Nixon für ein Foto in die Höhe springen lässt.

Auch das Wolfinger wird zur Filmkulisse, und Dangl erinnert sich, dass seine Mutter Brigitta einmal mitten in der Nacht Spaghetti napoletana für Swayze gekocht hat, weil er solchen Hunger hatte. Sein Dank ist im Gästebuch nachzulesen. Ich setze mich aufs Bett und schalte den Soundtrack zu Dirty Dancing ein. Ja, shame on me, ich weiß, das ist peinlich.

Dringendes Wohnbedürfnis

Ganz anders die Situation im legendären Stundenhotel Orient in Wien, wo – natürlich gesetzeskonform und also nicht zu Freizeit-, sondern Businesszwecken und "Stillung eines dringenden Wohnbedürfnisses" – seit Monaten durchgängig Betrieb herrscht. "Die Gästezahl hat zwar deutlich nachgelassen", berichtet Geschäftsführer Heinz Rüdiger Schimanko, "und auch die Klientel ist jetzt eine andere: weniger Paare, mehr Laptops und Aktentaschen."

Ein bisschen scheint ihn die Wehmut zu packen, als wir durch die verwaisten Hotelgänge zu seinem Lieblingszimmer, der Engerl-Bengerl-Suite, wandeln. "Die Atmosphäre mag vielleicht stiller und entrückter sein als vor Corona", erzählt er weiter, "und doch kann ein einzelnes Pandemiejahr der Sexenergie in diesem Haus ganz sicher nichts anhaben. Die staut sich immerhin schon seit Jahrhunderten an!" Er lacht.

Im Hotel Orient herrscht seit Monaten durchgehend Betrieb.
Foto: Daniela Emminger

Tatsächlich kommt man normalerweise hierher, um Sex zu haben. Und nicht, um in den opulenten Suiten unter plüschigen Baldachinen und barocken Deckenspiegeln in einer Art (Out-of-)Home-Office in die Computertastatur zu klopfen oder internationale Calls zu führen. Aber irgendwie lustig ist das schon.

Vielleicht gerade weil das Haus geschichtsträchtig und skandalumwittert ist wie kein zweites: Bereits im 17. Jahrhundert gilt der Tiefe Graben, damals noch direkt an einem Nebenarm der Donau gelegen, als Umschlagplatz für allerlei Güter aus dem Orient, 1896 wird die Adresse, damals noch mit den beiden Hausnummern 30 und 32, zum Hotel und damit selbst zu einer Art Orient.

Proksch in der Kaisersuite

Unter Schimanko senior, seines Zeichens Eden-Bar-Besitzer und schillernder Lebemann, der das Haus Ende der 1970er-Jahre, ziemlich genau ein Jahrhundert nach der ersten urkundlichen Erwähnung, übernimmt, ist das Orient als Wirkstätte einschlägiger Damen berühmt und berüchtigt.

Ende der 1980er sagt Vater Schimanko aber dem Rotlichtmilieu Ade und verpachtet die 20 burlesken Zimmer und Suiten an Seitensprüngler und Liebespaare. Seitdem gehen verstärkt auch TänzerInnen, KünstlerInnen, LiteratInnen, AristokratInnen und Gesellschaftsdamen im stattlichen Jugendstilbau aus und ein.

Das bunte, erotische Flair bleibt – auch als Schimanko junior nach dem überraschenden Herzinfarkt des Vaters – "Er ist übrigens glücklich beim Sex mit der Freundin gestorben", wie er mich wissen lässt – im Jahr 2006 als Student das Erbe übernimmt und anfänglich bis zu 18 Stunden am Tag arbeitet. "Ich liebe diesen Ort", beteuert der Hotellerie-Autodidakt, der schon als Kind illustre Gäste kennenlernt und 1000 Geschichten über das Orient erzählen könnte, die aus Diskretionsgründen aber nur im Ausnahmefall erzählt werden dürfen.

Etwa wie er als Kind im Rolls-Royce mit dem Vater vorfährt und es plötzlich Gold auf den Tiefen Graben regnet – die Fassade wird gerade mit feinstem Blattgold verziert. Oder, um eine Urban Legend zu bemühen, nach der Udo Proksch angeblich in der Kaisersuite wild um sich geschossen haben soll: "Es war nur ein Magnum-Sektkorken, die Einschussstelle ist immer noch an der Wand zu sehen."

Diskretion und Inspiration

Gar viele Künstler und Literatinnen sind in ferner und naher Vergangenheit dem einzigartigen Flair des Orient erlegen. Der Dritte Mann wurde hier gedreht – mit Schauspielstar Orson Welles als Übernachtungsgast, Ernst Molden hat in den 1990er-Jahren im Wiener Mäderlzimmer Die Krokodilsdame geschrieben, zur selben Zeit, als sich auch die Künstlervereinigung "Loge der generellen Zweckentfremdung" regelmäßig in der Suite Amethyst getroffen hat. (Da wäre ich gerne Mäuschen gewesen!)

Das Orient ist und bleibt ein Ort der Inspiration.
Foto: Daniela Emminger

Udo Lindenberg, Die Ärzte, Udo Jürgens haben es in den XXL-Badewannen, vor den barocken Marmorkaminen und unter den schweren Baldachinen ordentlich krachen lassen, Theaterregisseur Ludwig Wüst hat Schnitzlers Traumnovelle inszeniert, Westwood-Spross und Agent-Provocateur-Labelgründer Joseph Corre ist hinter den diskret gepolsterten Doppeltüren der Kaisersuite abgestiegen, die übrigens so heißt, weil sich schon Franz Joseph der Erste hier mit Mätressen vergnügte.

Seit 2016 bewohnt die heute 85-jährige Eden-Bar-Sängerin Vera Love als Dauergast ein kleines Zimmer im vierten Stock; Schimanko junior hat sie kurzerhand aufgenommen, als ihr unter Trump die Witwenpension gestrichen wurde. Nina Proll findet sich als eine der wenigen Promi-Eintragungen im Gästebuch; genau wie Tobias Moretti, der im Zuge der Dreharbeiten zu Jud Süß in der Afrika-Suite seine Filmpartnerin lautstark aus dem Fenster gewürgt hat.

Diskretion ist im Orient alles. Wer anonym oder für sich bleiben will, bleibt es auch. Die Wände machen keinen Mucks, die Spiegel speichern keine Bilder, das Personal lächelt still. Vielleicht liegt es an dieser heimeligen Verschwiegenheit, dass es sich hier so gut arbeiten lässt – ob nun horizontal, literarisch oder im (Out-of-)Home-Office.

Das Orient ist und bleibt ein Ort der Inspiration, hier ist alles erlaubt: denken, sich treiben lassen, lieben und schreiben. Und genau das mache ich jetzt auch. (Daniela Emminger, 23.5.2021)