Schicksalsdeuter der Dingwelt: Byung-Chul Han untersucht in seinem neuen Buch Phänomene des Verfalls.

Foto: Merve Verlag

Im Zweiten Deutschen Fernsehen gibt es eine Show mit dem Titel Bares für Rares. Allerhand Trödel wechselt da die Besitzer, denn was die einen loswerden wollen, ist für andere vielleicht ein kostbares Stück. Für den Philosophen Byung-Chul Han ist die Sendung allerdings ein Indiz vor allem für einen Missstand, denn sie zeigt, dass "heute selbst Herzensdinge gnadenlos zur Ware gemacht werden".

In seinem neuen Buch Undinge. Umbrüche der Lebenswelt beschäftigt er sich mit dem Leben der Dinge in den Leben der Menschen. Sein Befund ist hart: "Nicht Dinge, sondern Informationen bestimmen unsere Lebenswelt."

Die Dinge, die "Ruhepole des Lebens", geraten durch die Digitalisierung ins Hintertreffen. Es gibt inzwischen sogar schon Menschen, die Bücher als E-Books lesen, während Byung-Chul Han zwischendurch einfließen lässt, dass er daheim gern mit einer Jugendstillupe über einer alten Lutherbibel mit Lederschließen sitzt.

Kulturpessimismus

Seit seinem Buch über die "Müdigkeitsgesellschaft" (2010) ist er einer der bevorzugten Kulturpessimisten des deutschsprachigen Lesepublikums geworden. Mit dem neuen, schmalen Bändchen über die Undinge stellt er sich nun einem anderen prominenten Verfechter des kostbaren Moments und Verächter der technischen Zivilisation an die Seite.

Eines der wichtigsten Dinge, von denen Byung-Chul Han dieses Mal erzählt, ist eine Jukebox – da denkt man natürlich als Leser sofort an Peter Handke. Die Begegnung mit der Jukebox in Undinge liest sich wie ein Berufungserlebnis und hat auch literarische Züge: Nach einem zum Glück glimpflichen Fahrradunfall wird der sowieso schon dingsensible Denker auf einen Laden aufmerksam, den ein älteres Ehepaar betreibt. "Nur selten schien sich jemand dorthin zu verirren."

Ereignis der Präsenz

Er kauft schließlich die Jukebox und hat damit – neben einem Flügel, den er wie eine Gebetsmühle bespielt, und einem Arzttisch – ein drittes Ding in der ansonsten bewusst leer gehaltenen neu erworbenen Wohnung. Die Jukebox erweist sich als "ortsstiftend", in ihrer Nähe "wird jede Gewöhnlichkeit ein Ereignis der Präsenz", von ihr geht eine "Magie des Verweilens" aus.

Damit sind einige Begriffe genannt, auf die Byung-Chul Han mit seinem Plädoyer für die Dinge hinauswill: Für ihn ist das Informationszeitalter, das zurzeit durch die Digitalisierung eine enorme Beschleunigung erfährt, ganz und gar ein Phänomen des Verfalls. Bei Airbnb denkt er an Gastfreundschaft – und deren Verlust. (Dass es mit Couchsurfing eine andere Plattform gibt, die der Gastfreundschaft neue Formen erschließt – geschenkt.)

Bei der Sharing Economy denkt er an Entfremdung, denn Besitz bedeutet für ihn Intimität und Innerlichkeit. An manchen Stellen gelingen ihm pointierte Zuspitzungen: Die künstliche Intelligenz ist zu intelligent, um ein Idiot zu sein, das heißt, es fehlen ihr die Umwege des Denkens, die das Denken erst menschlich, unergründlich und schöpferisch machen.

Lob des Analogen

Mit der Hand berühren die Menschen die Dinge, mit dem Finger wischen sie über Informationen. Das iPhone ist für Byung-Chul Han das Unding par excellence, aber unter sein Verdikt fällt so gut wie alles, was in den letzten 20 Jahren als Innovation galt. Dagegen setzt er ein Lob des Analogen, das mit Roland Barthes bei der chemischen Fotografie ansetzt und mit Heidegger bei Lederschuhen, wie sie auch Handke anzieht, wenn er sich auf einen seiner Wege zu den Dingen macht.

Es heideggert überhaupt sehr bei Byung-Chul Han, und er schafft es dabei, die geschlungenen Sätze des Schwarzwald-Orakels durch lakonischen Satzbau zu übertreffen: "Ergriffenheit geht dem Begreifen voraus."

An Undinge ist prinzipiell nicht alles verkehrt, den hohen Ton muss man halt mögen ("Wir leben heute in einer Zeit ohne Weihe", "Ich wäre gern der Schicksalsdeuter der Dingwelt"). Ein intellektuelles Ärgernis wird das Buch dadurch, dass Byung-Chul Han mit seinen Haupt- und Behauptungssätzen den modernen Alltag auf eine Weise durchschneidet, als ginge es um ein Entweder-oder: hier die digitale Ordnung der Selfies und Sprachassistenzen, da die "terrane" Ordnung der verwurzelten Menschen, die noch wissen, wie man sich "mit Schicksal und Geschichte beladen" lässt, am besten von Erbstücken, die niemals gegen Bares für Rares auf den Markt kämen.

Wir leben in einer spannenden Zeit, der am besten mit Reflexivität beizukommen ist. Man kann auch mit dem Smartphone denken. Byung-Chul Han aber lauscht lieber auf den verführerischen Ton seiner einseitigen Selbstgewissheit. (Bert Rebhandl, 22.5.2021)