Niederschwellig und mobil sollte das Angebot zur Dokumentation von Verletzungen bei Gewalt sein, fordert Kathrin Yen.

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Wenn Frauen schon länger von Gewalt durch ihren Partner betroffen sind, dauert es oft lange, bis sie sich zu einer Anzeige durchringen können. Doch egal, wie Betroffene mit der erlebten Gewalt umgehen, wichtig wäre in jedem Fall, dass sie Verletzungen dokumentieren können. Betroffene können später immer noch entscheiden, was sie mit dieser Dokumentation anfangen, wichtig sei aber vor allem, dass sie gemacht wird, sagt die Rechtsmedizinerin Kathrin Yen. Denn Zweifel daran, ob und in welchem Ausmaß Gewalt stattgefunden hat, gibt es oft.

STANDARD: Sie sagen, eine gute Beweissicherung ist für die Gewaltprävention wichtig. Warum?

Yen: Für mich fängt der gesamte Gewaltschutz damit an, dass man sicherstellt, wer tatsächlich Gewalt erlitten hat, was für eine Art der Gewalt vorliegt und wie schwer die Gewalt war, ob ein Opfer zum Beispiel in Lebensgefahr war. Das steht ganz am Anfang aller weiteren Entscheidungen. Das ist nicht nur für die Aufarbeitung des Erlebten durch die Betroffenen wichtig, sondern für alle Institutionen, die mit Gewaltopfern zusammenarbeiten. Bei sexueller Gewalt etwa, wo es meist keine Zeugen gibt, bleibt oft ein gewisser Zweifel hängen, ob da wirklich etwas war oder nicht. Beweise sind wichtig, damit Opfer sich nicht rechtfertigen müssen und ihnen geglaubt wird und man weiß, wen man wie schützen muss. Wer braucht einen Frauenhausplatz, wer eine Beratung, wer eine ärztliche und wer eine therapeutische Betreuung?

Wenn man zeigen kann, dass jemand schwerer Gewalt ausgesetzt war, etwa lebensgefährlich gewürgt worden ist, dann erhöht das nicht nur den Strafrahmen, sondern es ist auch ein klares Signal, dass sich etwas ändern muss, dass die Frau in diesem Umfeld nicht mehr bleiben kann, weil sie beim nächsten Mal Würgen tot sein könnte. Mit einiger Wahrscheinlichkeit ist sie dies sogar. Dem tödlichen Übergriff sind meist schon gewaltsame Ereignisse vorangegangen.

STANDARD: Wie sieht eine gute Beweissicherung bei häuslicher Gewalt, Missbrauch und sexualisierter Gewalt aus?

Yen: Dafür braucht es eigene Ambulanzen, die auf die fachgerechte Verletzungsdokumentation und forensische Spurensicherung spezialisiert sind. Diese müssen rund um die Uhr in Betrieb und für alle Gewaltopfer erreichbar sein, auch unabhängig vom Versicherungs- und finanziellen Status, von der Herkunft oder dem Alter der Betroffenen. Jeder Mensch, der Gewalt erlebt, soll die Möglichkeit zu einer gerichtsmedizinischen Untersuchung und Beweissicherung bekommen. Wichtig ist auch, dass eine Gewaltambulanz mobil verfügbar ist und man somit in der Lage ist, zu den Betroffenen zu kommen. Viele befinden sich in Krankenhäusern, selbst auf Intensivstationen, oder auch bei Polizeidienststellen – wir müssen dorthin, wo wir gebraucht werden.

Kathrin Yen: "Wenn Sie einen Blinddarmdurchbruch erleiden, gehen Sie auch nicht zum Augenarzt. Dasselbe gilt, wenn man Gewalt erlebt hat."
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Die Untersuchung in einer Gewaltambulanz muss zudem auch "verfahrensunabhängig" möglich sein. Das heißt, ein Mensch, der Gewalt erlitten hat, muss nicht zuerst eine Anzeige erstatten, um eine Beweissicherung zu bekommen.

STANDARD: Warum ist das auch wichtig, wenn man keine Anzeige erstatten will?

Yen: Insbesondere Opfer von sexueller, aber auch häuslicher Gewalt haben eine hohe Hemmschwelle, zur Polizei zu gehen. Ein Grund ist, dass der Täter oder die Täterin hier meist aus dem persönlichen, vertrauten Umfeld kommen. Wenn man die Betroffenen erreichen will, bevor es zu schweren Übergriffen kommt, muss eine niederschwellige, verfahrensunabhängige Untersuchung und Beweissicherung möglich sein. Die untersuchte Person kann in solchen Fällen frei entscheiden, was mit den Beweisen weiter passiert. Ob sie bis auf weiteres abgelegt werden oder ob man Auswertungen oder ein Gutachten möchte. Das entscheidet in nicht angezeigten Fällen die betroffene Person selbst. Gerade bei häuslicher Gewalt gibt es oft eine lange Vorlaufzeit. Es passiert ein Übergriff und noch einer, und irgendwann entscheiden sich die Betroffenen zu einer Anzeige. Wenn dann schon Beweise gesichert sind, ist die Ausgangslage zum Beispiel in einem Strafverfahren um vieles besser.

STANDARD: Wie erfahren die Betroffenen von einer Gewaltambulanz?

Yen: Die Grundvoraussetzung ist, dass es überhaupt ein Angebot einer Gewaltambulanz gibt. Das ist an vielen Orten noch nicht der Fall (Der Standard berichtete). Darüber zu informieren ist sehr wichtig, übers Internet, über viel Öffentlichkeitsarbeit und zum Beispiel durch die regelmäßige Veröffentlichung der Erreichbarkeit in Zeitungen. Wichtig sind auch Fortbildungen für Ärztinnen und Ärzte, für die Polizei und Staatsanwaltschaft, Jugendämter, Opferberatungsstellen etc. Bei allen Entscheidungsträger*innen muss dieses Angebot bekannt sein, sobald es besteht. Leider ist in dem Bereich noch immer sehr viel zu tun.

Betroffene selbst wissen oft nicht von der Möglichkeit einer forensischen Beweissicherung und landen dann nicht bei uns oder kommen zu spät. Dadurch geht viel Information verloren. Verletzungen und Spuren sind oft flüchtig, sie können schnell vergangen sein. Sobald sich jemand ausführlich geduscht hat, brauchen wir auf der Haut nicht mehr nach DNA-Spuren zu suchen. Hat jemand K.-o.-Mittel bekommen, sind diese im Blut nur wenige Stunden lang nachweisbar. Nicht rechtzeitig dokumentierte Verletzungen und nicht gesicherte Spuren sind für immer verloren.

STANDARD: Warten Betroffene generell zu lange damit, sich untersuchen zu lassen?

Yen: Wichtig ist eine gute Vernetzung mit der Opferhilfe, den Beratungsstellen, den regionalen Kliniken, Jugendämtern und der Polizei. Diese wissen über das Angebot und den Nutzen der Untersuchungen gut Bescheid und informieren Betroffene. Diese finden dann meist sehr zeitnah zu uns. Alles andere kann nach der Untersuchung in Ruhe überlegt und entschieden werden. Versäumnisse gibt es vor allem dann, wenn die Beweissicherung nicht zeitnah und nicht fachgerecht durchgeführt wird.

STANDARD: Was bedeutet nicht fachgerecht?

Yen: Es gibt immer noch das häufige Missverständnis, dass es ausreiche, wenn man nach einer Gewalttat zu einer Ärztin oder einem Arzt geht. Aber klinische Ärzt*innen haben einen anderen Fokus und eine ganz andere Facharztausbildung. Wir sind Fachärzte für Gewalt, wir erkennen Gewalt und können auch einschätzen, wie die Gewalt entstanden ist. Man braucht dazu hochspezialisierte gerichtsmedizinische Fachexpertise. Wenn Sie einen Blinddarmdurchbruch erleiden, gehen Sie auch nicht zum Augenarzt. Dasselbe gilt, wenn man Gewalt erlebt hat. Es ist ein riesiger Unterschied, ob man im klinischen Sinne Diagnostik betreibt und Therapie durchführt, damit es den Betroffenen besser geht und die Schmerzen weggehen, oder ob man eine Beweissicherung durchführt. Die Dokumentation aus klinischen Untersuchungen reicht im Strafverfahren nicht aus, um zum Beispiel beurteilen zu können, ob eine Person wirklich gewürgt worden ist und ob sie sich gewehrt hat. Doch genau solche Fragen geben letztlich den Ausschlag, ob es zu einem Urteil kommt.

STANDARD: Den Betroffenen zu glauben reicht nicht?

Yen: Im Strafverfahren muss eine Tat mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bewiesen werden, ansonsten kommt es nicht zu einer Verurteilung. Das Vorliegen objektiver Beweise ist deshalb von enormer Bedeutung und deren Fehlen eine der Ursachen, weshalb keine Verurteilung zustande kommt. Ich selbst bin Rechtsmedizinerin und gehe daher immer mit einer neutralen Haltung an Untersuchungen heran, wer Opfer ist, klärt sich erst bei der Untersuchung. Das ist sehr wichtig, da die Dinge nicht immer so liegen, wie sie behauptet werden. Es gibt auch Falschbehauptungen und Falschanzeigen, und durch diese kann Leid und Unrecht entstehen. Denken Sie an ein Scheidungsverfahren, in dem eine Kindesmisshandlung behauptet wird, die nie stattgefunden hat – und ein Elternteil darf sein Kind nicht mehr ohne Aufsicht sehen. Deshalb ist es einfach wichtig zu wissen, was wirklich passiert ist. Diese Klarheit steht ganz am Anfang. (Beate Hausbichler, 23.5.2021)