Nayime Arslan, Wirtin in Mattersburg: "Das war ein Traum von mir."

Foto: Matthias Cremer

Nayime Arslan ist 156 Zentimeter groß und 55 Kilogramm leicht. Aber wenn sie die Ärmel aufstrickt, und das tut sie Tag für Tag, dann wächst sie. Wird, wenn schon nicht gewichtig, so doch standfest auf eine Weise, die einen sagen lässt: Die haut so schnell nichts um. Für das unglückliche Mattersburg – so sagen sie reihum – ist das ein Glück. Denn Nayime Arslan, zu der alle Dani sagen, ist die letzte Wirtin von Mattersburg.

Natürlich gibt es auch andere gastliche Stätten in der 7000-Einwohner-Stadt: Speise-und Abspeiselokale; Pizzerias und schulstadt-adäquates Irgendwas to go; Cafés und solche, die sich so nur nennen; ein Bistro, ein Pub, ein feines spanisches Restaurant, ein altes Gasthaus, das nur alle heiligen Zeiten offen hat.

Aber ein wirkliches Wirtshaus – ein Ort, an den Familien ihre Oma oder ihren Opa zum Geburtstag ausführen, Vereine ihre Sitzungen abhalten, die Wirtshausmusi aufspielt von Zeit zu Zeit, die Kartendippler sich zum Kartendippeln treffen und die redseligen Männer zum Frühschoppen – gibt es nur noch dieses eine: das Gasthaus Schwentenwein im eingemeindeten Walbersdorf, das seit dem Jänner 2019 Nayime Arslan führt.

Heimisch geworden

Das Bahnhofswirtshaus schloss 2012. Die Martinischenke, wo sich auch die Fußballverrückten getroffen haben, 2013. Im September riss dann die Bank das Hotel Florianihof in die Pleite. Und damit dessen Restaurant – Flurl nannte man es –, das vielen als Stadtwirtshaus gedient hatte. Im Lockdown hat ein neuer Besitzer mit einer Revitalisierung begonnen. Man wird sehen.

Bis zum Lockdown im November trafen sich auch die vom Flurl draußen in Walbersdorf, dem zweite Bezirk von Mattersburg. Und es mag sein, dass sie es auch gewesen sind, die der neuen gastronomischen Hierarchie einen topografischen Begriff gegeben haben. Demnach setze die Bezirkshauptstadt Mattersburg sich nunmehr zusammen aus Mattersdorf und Walbersburg.

Nayime Arslan, zu der alle Dani sagen, ist eine gebürtige Weinviertlerin. Aufgewachsen ist sie in Wiener Neustadt. In Mattersburg sind sie und ihre Familie dann heimisch geworden. "Mein Opa ist 1964 gekommen. Er war Dachdecker. Zwei Jahre später hat er den Papa nachgeholt. Er hat in derselben Dachdeckerei in Gänserndorf gearbeitet. 1968 kam dann die Mama." Alle stammten sie aus einem Dorf im Süden der Türkei. Die Grenze zu Syrien ist nicht weit. Die Millionenstadt Urfa, das antike Edessa, liegt in der Nähe.

Gekommen als Gastarbeiter

Den Arslans erging es wie vielen jener Generation. Gekommen waren sie als Gastarbeiter. Mit Betonung auf Gast. Denn weder die Gäste noch die Gastgeber dachten sich ihre Beziehung dauerhaft. Im Gegenteil. Sie hatten bloß angeheuert im boomenden Österreich. Alle Wünsche aber richteten sich darauf, mit der Heuer das Leben daheim sich zu gestalten.

Doch diese Sache ist komplexer gesponnen als das bloße Wünschen. Die Kinder gehen in die Schule, finden Arbeit, die Freunde leben hier, die Lebensthemen werden nach und nach österreichischer. Was für den Vater noch eindeutig daheim war, ist für die Tochter längst schon bloß "daheim". Und bei ihren mittlerweile erwachsenen Kindern ist das eigentlich kein Wiglwogl mehr: Sie sind Österreicher. Aber auch sie tragen – no na – die Herkunft der Familie mit einem gewissen Stolz.

Es ist wie der Belastungswechsel beim Stehen: In Österreich ruht das Standbein, im Türkischen wippt das Spielbein. Man kennt das von den Burgenländern in Amerika. Auch die vertriebenen Juden erzählten davon. Integration ist ein schleichender, generationenlanger, oft schmerzlicher Prozess. Die alte Heimat togazt, wie man im Burgenland sagt. Die Integration ist nicht nur ein Ankommen. Sondern, mehr noch vielleicht, ein Abschiednehmen. Man stelle sich das nicht zu einfach vor.

Daheim investiert

"Was der Papa und der Opa sich erspart haben, wurde daheim investiert. " Der Verdienst war gut, Kredite kein Problem. Ein größeres Haus, ein Pistazienhain. Noch einer. "Ich war selber ein paarmal dabei beim Pistaziengrasen." Grasen – so sagt man in und um Mattersburg, wenn man zum Kirschenbrocken geht. "Wenn der Papa den Arbeitsunfall nicht gehabt hätte, wäre ich wahrscheinlich gar nicht mehr da."

Als Dachdecker konnte er nicht mehr arbeiten. Die Schulden waren noch da. Nach der Genesung fand er eine Anstellung als Lkw-Fahrer in einem Putenverarbeitungsbetrieb in Pöttelsdorf. Die Mutter und die Tochter arbeiteten auch dort. Nayime jobbte sogar nebenher. Dann kamen die Kinder. Die große Familie lebt jetzt in einem Haus in Mattersburg.

An einem Stadtcafé sah sie vor vielen Jahren im Vorbeigehen eine handgeschriebene Stellenanzeige: Reinigungskraft gesucht. Sie fragte nach. Die amtierende Kellnerin, die sie kannte, sagte: "Wir brauchen eh wen zum Servieren auch. Du machst das schon." Und so – ermuntert – geriet Nayime Arslan in die Gastronomie. "Ich sag", sagte die Kellnerin, die nunmehr der Wirtin zuweilen aushilft, "Dani zu dir, damit tu ich mir leichter." Die Gäste auch. Und seither ist Nayime Arslan die Dani.

Schmale Speisekarte

Viel hat sich nicht geändert, seit der Seniorchef in Pension gegangen ist. Josef Schwentenwein war sein Berufsleben lang Wirt und Bauer gleichermaßen. Dani Arslan ging ihm seit vielen Jahren schon zur Hand. Nun haben sich die Rollen verkehrt. "Das war schon ein Traum von mir: Wirtin!"

Die Speisekarte blieb sehr schmal. Investitionen in die Küche und das dazugehörige Personal wären nicht zu stemmen gewesen. Jetzt, in Corona-Zeiten, sowieso. Nur, wenn Feiern angesagt sind, ruft die Wirtin ihre Mannschaft zusammen. Dann gibt es, was das Abendländerherz vor allem begehrt: Schweinsbraten oder Wiener Schnitzel von ebendiesem Tier. Die Wirtin und ihre Küchenmannschaft machen, wenn der Trubel vorbei ist, für sich was anderes. Putenschnitzel zum Beispiel. "Wir nehmen auch ein anderes Öl."

Religion und Politik

Nayime Arslan ist bekennende Muslimin. Sie trägt das nicht bigott vor sich her. Aber sie hat hörbar Freude daran, im Glauben der Väter zu bleiben. "Die Moschee besuche ich nicht, das geht sich nicht aus." Im nahen Wulkaprodersdorf gäbe es eine. Dagegen lief einmal – es wird wohl irgendein Wahlkampf gewesen sein – die FPÖ Sturm. Und weitgehend ins Leere. Gerade in Mattersburg, da zählt die türkische Community um die 400 Köpfe. Unlängst hat ein türkischer Supermarkt eröffnet.

Mit der Selbstverständlichkeit, mit der die Wirtin ihren Glauben trägt, pflegt sie aber auch die katholischen Insignien und Traditionen des Wirtshauses. Auf der Stellage hinter der Budel wacht der heilige Florian. An der Stirnwand hängt ein Kruzifix. Draußen steht eine Mariensäule. Beim Fronleichnamsumgang wird hier ein Altar aufgebaut. Den hat die Wirtin schon als Kellnerin geschmückt.

Mit gleicher Selbstverständlichkeit stellte Josef Schwentenwein für die Familie Arslan eine Zeitlang Schafe in den Stall. Dass es hin und wieder Schöpsernes gibt – eine Spezialität, für die Leute auch aus der weiteren Umgebung anreisen –, hängt damit aber nicht zusammen. Das gibt es hier seit alters her immer dann, wenn in Mattersburg Markt gehalten wird.

Die Religion ist kein Gesprächsthema bei der Wirtin. Die Politik zuweilen. Manchmal kommt ihr wer blöd wegen Erdoǧan. Dann krempelt die Mittvierzigerin die Ärmel noch ein Stück höher. Nicht, dass sie dem türkischen Staatschef Hymnen sänge. "Meine halbe Verwandtschaft sind Kurden." Aber sie wolle sich halt auch nicht einfach so gegen das Spielbein treten lassen mit den so schlichten, promillegestärkten Ressentiments.

Stammtisch

Der Sonntagstrubel – so war es vorm Lockdown, so wird es jetzt wieder sein – hat sich gelegt. Ein paar Unverdrossene haben sich um den Stammtisch gesammelt. Der Seniorchef lehnt zufrieden an der Budel und erzählt irgendeinen Witz. Die Wirtin sagt dann: "Die Herren: eine vW-Runde!" Die Runde von der Wirtin.

Der, der sich alles merken muss, weil er darüber was schreiben will, nimmt ausnahmsweise etwas, das er "Praterpfifferl" nennt. Es gilt, der Wirtin zuzuprosten. Nayime Arslan, die Dani, prostet mit Wasser zurück. (Wolfgang Weisgram, 23.5.2021)