Mit Oasis haben die Gallagher-Brüder 75 Millionen Platten verkauft. Zwei Jahre nach der Trennung 2009 wurde die Band Noel Gallagher’s High Flying Birds gegründet. Im Juni erscheint ein Best-of-Album.

Foto: Matt Crockett

Noel Gallagher sitzt in einem Londoner Keller und flucht. Kaum ein anderer Popstar schmückt seine Sätze mit dermaßen vielen Kraftausdrücken, wenn er über Musiker, Freunde wie Feinde, redet. "So bin ich nun mal erzogen worden", sagt er. Und nimmt kein Blatt vor den Mund. Sein Best-of von Noel Gallagher’s High Flying Birds Back the Way We Came: Vol. 1 erscheint am 11. Juni, am 29. Mai wurde der Sänger 54 Jahre alt.

STANDARD: Mister Gallagher, Sie haben mit Ihrem Bruder Liam die Band Oasis gegründet, gelten als einer der besten Songwriter Englands und wurden von einer Zeitung bereits zum "Pub-Philosophen" gekürt. Haben Sie schon eine Kneipe nach den Öffnungen besucht?

Noel Gallagher: Ja, gleich am ersten Tag im April, als die Pubs in London ihre Außenbereiche aufmachten. Eine ziemlich trostlose Angelegenheit. Ich hatte einen dicken Parka an, hockte in der Dunkelheit und trank Bier, während mir die Finger abfroren.

STANDARD: Es war das vorläufige Ende einer schweren Zeit. Wie verlief das Jahr der Pandemie bei Ihnen?

Gallagher: Die meiste Zeit habe ich mit meiner Frau und unseren zwei Söhnen auf dem Land in Hampshire verbracht. Manchmal bin ich nach London reingefahren, einfach um mir die leeren Straßen anzusehen. Beruflich war es ein gutes Jahr, ich habe einige Lieder für mein Best-of-Album geschrieben ...

STANDARD: ... die Platte Ihrer Band The High Flying Birds erscheint Mitte Juni ...

Gallagher: ... aber persönlich ging es nicht so gut. Ich fiel in schlechte Angewohnheiten zurück, die ich überwunden glaubte. Habe ich nichts zu tun, mache ich auch nichts – am liebsten mit Alkohol.

STANDARD: Sie könnten Ihren Kindern beim Homeschooling über die Schulter schauen.

Gallagher: Ich habe zugesehen, wie die Lehrer ihnen online etwas beibringen wollten. Meine Jungs saßen nachmittags um zwei in ihren Unterhosen vor dem Computer, aßen einen Toast, während sie einen Blödsinn lernen sollten, der vor 100 Jahren passiert ist. Das ging in ein Ohr rein, aus dem anderen wieder raus.

Noel Gallagher bringt im Juni ein neues Album heraus, und er kämpft noch immer gegen seine Alkoholsucht.
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STANDARD: Warum haben Sie nicht geholfen?

Gallagher: Ich war besoffen. Sehen Sie, ich brauche Routine. Ich bin ein Typ, der bestimmte Dinge zu einer bestimmten Uhrzeit macht. Und wenn diese Struktur aufgebrochen wird, weiß ich nicht, was ich mit mir anstellen soll.

STANDARD: Vielleicht ein Lied schreiben?

Gallagher: Inspiration kommt, wann immer es ihr passt. Bestimmt nicht, wenn du den ganzen Tag herumsitzt und auf sie wartest. Ich fühlte mich wie eine Fahne im Wind, ließ mich treiben und öffnete dann eine Flasche, um mich gut zu fühlen. Es wurde erst besser, als ich mir im November ein Musikstudio in London einrichtete. Seitdem ich diesen Ort habe, an dem ich für ein paar Stunden an Songs arbeite, geht es mir besser. Das Studio war die absolute Rettung für mich.

STANDARD: Eigentlich mögen Sie es doch nicht, wenn Leute in ihrem Leben zu viel an die Arbeit denken.

Gallagher: Wenn Sie glauben, was Musiker tun, sei Arbeit, sollten Sie mal Ihre Definition des Wortes überdenken. Was wir machen, nenne ich fucking about.

STANDARD: Höflich übersetzt: Rumwurschteln.

Gallagher: Die Leute, die zu viel arbeiten, sind Politiker, Bürokraten, Banker, Terroristen. Toll, dass wir ein Jahr Pause vom IS hatten. Da müssen wir uns wohl bei Corona bedanken. Die Politiker könnten verdammt noch mal mehr zu Hause sitzen und ihre Freunde anrufen, anstatt das Leben anderer Menschen zu ruinieren.

STANDARD: Reden wir über Ihre Leidenschaft, die Musik. Bono, ein Freund von Ihnen, meint: Pop sagt dir, dass alles in Ordnung ist, Rock macht kein Geheimnis daraus, dass nicht alles perfekt läuft. Entspricht das eher Ihrem Musikverständnis?

Gallagher: Er hat recht. Popmusik ist Eskapismus, und Rock klopft dir auf die Schulter, um dich zu fragen: Und was ist damit? Wie immer liegt die Magie in der Mitte. Denken Sie an Paul Weller, der in den 80er-Jahren diese komplexen Popsongs für The Jam geschrieben hat, bei denen ich erst später kapierte, worum sie sich drehten. Tiefsinniger Scheiß, der auf Platz Nummer eins landete. Mir gefallen einige politische Rocker wie U2, andere wie Radiohead hasse ich. Und manchmal spricht mich sinnloser Pop an.

STANDARD: Also die Spice Girls.

Gallagher: Nein. Die fand ich nicht mal scharf, was in diesem Zusammenhang das größte Verbrechen ist. Ginger Spice, also Geri Halliwell, hatte ein Froschgesicht, Posh Spice Victoria Beckham sah kein Stück vornehm aus.

Noel Gallagher hält Phil Collins für den Antichrist, sich selbst hingegen für ein Genie.
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STANDARD: Sie werden gern Ihrem Ruf als "Jukebox voller Beleidigungen" gerecht. Welche wurde Ihnen schon an den Kopf geworfen?

Gallagher: Phil Collins hat über mich gesagt: Er ist nicht so gut, wie er denkt. Worauf ich geantwortet habe, das sollte ich wohl am besten wissen – und ich denke, ich bin fucking großartig.

STANDARD: Warum hassen Sie Phil Collins schon seit Jahren so inbrünstig?

Gallagher: Diese Wut stammt noch aus den 1980er-Jahren, als seine Single You Can’t Hurry Love gefühlte 147 Wochen auf Platz eins in England stand und somit anderen besseren Bands den Weg versperrte. Phil Collins ist seitdem für mich der Antichrist.

STANDARD: Er soll ganz witzig sein.

Gallagher: Das kann man von seiner Musik nicht behaupten.

STANDARD: Mit einem anderen berühmten Musiker, Paul McCartney, wurden Sie verwechselt. Waren Sie geschmeichelt oder beleidigt?

Gallagher: Das passierte in Los Angeles. Der Fahrer schaute mich an: Sind Sie Musiker? Britisch? In einer Band? Nachdem ich alles bestätigte, fragte er: Sind Sie Paul McCartney? Ich dachte, hey, der Mann ist 70 Jahre alt – und fühlte mich schon etwas angegriffen.

STANDARD: Noch schlimmer: Manchmal hält man Sie für Ihren Bruder Liam, mit dem Sie seit zwölf Jahren nicht mehr reden.

Gallagher: Ich erzähle Ihnen eine Geschichte, die vor der Pandemie passiert ist. Eines Abends stand ich an einer Bar, ein Kerl starrte mich die ganze Zeit an, kam rüber zu mir und fragte: Haben Sie zufällig mal bei Oasis gesungen? Ja, antwortete ich, und er sagte: Liam Gallagher. Nein, der andere, erwiderte ich. Er guckte mich an: Es gibt einen anderen?

STANDARD: Ihr Bruderzwist war jahrelang Thema der englischen Klatschpresse. Über die Dynamik in Oasis haben Sie gesagt, Ihr Bruder sei Ihre Achillesferse geworden, weil er weiß, wie er Sie zur Weißglut bringen kann – und umgekehrt. War der Bruch 2009, als Sie die Band verließen, reiner Selbstschutz?

Gallagher: Ein bisschen auf jeden Fall. Damals war ich 42 und wollte nicht mehr unglücklich sein in dieser großartigen Band, die wir zusammen erschaffen hatten: eine der größten Gruppen, die jemals aus England kamen. Wir stritten uns die ganze Zeit um Kleinigkeiten, die nichts mehr mit Musik zu tun hatten. Und ehrlich, es war befreiend, das hinter sich zu lassen.

STANDARD: Sind Sie jetzt glücklich?

Gallagher: Ja, die vergangenen zehn Jahre waren die besten meines Lebens – sowohl privat als auch beruflich. Warum soll ich mich in einem bestimmten Alter noch von anderen Leuten abhängig machen? Warum muss ich meine Ideen mit anderen vier Musikern absprechen – von denen einer nur die verdammte Bassgitarre spielt? Nichts gegen Bassisten, aber das sind alles Idioten.

STANDARD: Sie haben den Kontakt zu Ihrem Bruder komplett eingestellt. Sie haben das damit begründet, dass Sie nicht vergeben können.

Gallagher: Ja, meine große Schwäche, ansonsten habe ich einen total makellosen Charakter. Ich besitze die Geduld eines Heiligen bis zu einem gewissen Punkt– wenn der überschritten ist, sind Sie tot für mich.

STANDARD: Mit Oasis haben Sie 75 Millionen Platten verkauft und hatten diverse Hits. Schauen Sie sich noch Ihre Chartpositionen an?

Gallagher: Nein.

STANDARD: Sollten Sie. Zum Zeitpunkt dieses Gesprächs befinden sich noch zwei Oasis-Alben in den britischen Top 30, darunter "What’s the Story" mit 485 Wochen.

Gallagher: Was soll ich sagen? Ein Zeugnis meines Genies.

STANDARD: Oder es bedeutet, dass die Musik zum Wohlfühlsoundtrack einer Gesellschaft geworden ist.

Gallagher: Das ist eine tolle Sache, ganz sicher. Aber ich kann es mir nicht leisten zurückzublicken. Es würde mir leichtfallen, mit einer Truppe von Jungs wieder loszulegen, Stadien auf der ganzen Welt auszuverkaufen und auf ewig Oasis zu spielen. Das will ich jedoch nicht, ich will mich weiterentwickeln. Oasis waren großartig, die Musik ist es immer noch. Sie wird von Generation zu Generation weitergegeben. Aber ich habe das Gefühl, dass die Menschen von mir erwarten, dass ich mich nur damit beschäftige. Wie bei den übrig gebliebenen Mitgliedern von Oasis. Es ist alles, was sie noch haben. Bei mir nicht, die Band ist ein Teil meiner Vergangenheit. Und ich lebe nicht in der Vergangenheit.

STANDARD: Schauen wir in die Gegenwart. In der Musikbranche arbeiten nun ganze Teams daran, um zu fünft Hits für Rihanna oder Dua Lipa zu schreiben. Wie finden Sie das?

Gallagher: Das ist so lächerlich, ich fühle mich wie der Letzte einer aussterbenden Art. Wenn ich mal auf Veranstaltungen für Songwriter gehe, zum Beispiel die Ivor Novello Awards in London, auf denen die besten Lieder des Jahres ausgezeichnet werden, stehen plötzlich elf Leute auf, um einen Preis entgegenzunehmen. Einmal nahm ich an einem gesetzten Essen teil, ich gebe zu, vielleicht habe ich das eine oder andere Glas Champagner getrunken, mein Gott, das sind eben die Risiken eines Rockstarlebens, und da saß ich mit acht Typen am Tisch, die alle zusammen ein Lied geschrieben hatten. Was habt ihr denn da gemacht, habe ich gefragt. Einer hatte die Idee, ein anderer schrieb die Basslinie, zwei haben an den Beats gearbeitet, einer am Refrain und so weiter. Und die Sängerin, die das vorgetragen hat? Musste nur ihr Gesicht herhalten. Darin liegt das Problem: Musik wird zur Konfektionsware.

STANDARD: Und sie lohnt sich nicht mehr. Popstars beschweren sich über die Bezahlung auf Streaming-Plattformen. Wird der Musiker der Zukunft ein Mindestlohnarbeiter sein?

Gallagher: Yep, die Ära des Rockstars ist vorbei. Keiner wird sich einen Schimpansen leisten können wie einst Michael Jackson. Dieser Idiot von Spotify will sich nun den Fußballklub Arsenal London kaufen – von dem Geld, das er mir nicht bezahlt!

STANDARD: Die Plattenfirmen atmen auf, weil sie mit Streaming endlich wieder Gewinn machen.

Gallagher: Weil sie Anteile an Spotify haben, na klar. Und sie finden, wir Musiker sollen noch glücklich sein, dass wir überhaupt etwas abbekommen und auf dieser großartigen Plattform präsent sein dürfen. Ich glaube, in einem geheimen Labor irgendwo in der Schweiz bastelt gerade ein Typ an einer Software, mit der man Gigs runterladen kann, sodass niemand mehr auf Konzerte gehen braucht. Und dann werden wir dafür auch nicht mehr bezahlt.

STANDARD: Diese Hologramm-Show gibt es bereits. Abba wollen damit demnächst touren.

Gallagher: Ach, ich wünschte, mein Bruder hätte sich um 2006 herum in ein Hologramm verwandelt. Das hätte uns viel Ärger erspart. (Ulf Lippitz, RONDO, 10.6.2021)