Zum ersten mal seit Lordi 2006 gewann mit Måneskin heuer wieder eine Band des Song Contest.

Foto: Andres Putting / EBU

Rotterdam – Am Ende gewann der Favorit der Buchmacher. Die Band Måneskin rebelliert mit ihrem Siegersong gegen ältere Generationen und besingt, dass es okay sei, anders zu sein. Man muss eben nicht still und brav (Zitti e buoni) sein. Geschminkte Männer sind in Italien nicht an der Tagesordnung. Glamrock gilt auch nicht unbedingt als eine italienische Tradition. Måneskin inszenierten ihren Auftritt nicht als Videoclip, sondern gaben den Zusehern das, was sie seit über einem Jahr so vermissen: ein Konzert, ein dreiminütiges Feuerwerk voller Energie und Rebellion.

Damiano David, Thomas Raggi (übrigens der erste ESC-Gewinner, der im 21. Jahrhundert geboren wurde), Victoria De Angelis und Ethan Torchio wurden nicht müde, ihre Geschichte zu erzählen. Wie sie als Schüler mit Straßenmusik begannen und die ersten Gagen im Hut einsammeln mussten. Irgendwann landeten sie als Gruppe bei der Casting-Show X-Factor. Es folgte eine Tour, Alben, der Sieg beim Festival di Sanremo 2021 und nun eroberten sie Europa im Sturm. Mit dem Sieg beim Eurovision Song Contest 2021 gewinnt zum ersten mal seit Lordi 2006 wieder eine Band.

Glaubwürdigkeit wichtiger als Perfektion

Barbara Pravi aus Frankreich musste sich knapp geschlagen geben, wurde aber souverän Zweite mit dem klassischen französischen Chanson "Voilà". Der Schweizer Gjon’s Tears war Juryliebling, das Publikum platzierte ihn letztendlich auf dem dritten Platz.

Die französische Interpretin Barbara Pravi holte beim ESC den zweiten Platz.
Foto: AFP / Kenzo Tribouillard

Leer gingen hoch gehandelte Acts wie Malta oder Schweden aus. Es sieht so aus, als sei die Zeit der aus dem Eurovision-Baukasten gezimmerten Songs, die dann ein Castingshow-Starlet interpretieren darf, vorbei. Es hat sich geradezu ein Songwriting-Camp-Zirkus rund um den Song Contest gebildet. Doch siehe da: Das Publikum wählte in den Top-Plätzen lieber Künstler, die ihre Songs selbst geschrieben haben. Sie wählten in den Top 5 zudem nur einen einzigen englischsprachigen Song. Das ist bemerkenswert. Es scheint: Glaubwürdigkeit war wichtiger als technisch glatte Perfektion. Originelle Eigenständigkeit wichtiger als Erwartungen, wie ein Song Contest-Song zu klingen habe.

YouTube-Star brilliert als Moderatorin

Der Sieg Måneskins öffnet den Eurovision Song Contest, und das ist eine gute Nachricht. Man muss nicht nur stromlinienförmigen Radiopop schicken. Beiträge dürfen auch mutig sein: Rock, Indie, ja auch Rap (Mahmood 2019) sind willkommen und erfolgreich.

Für Deutschland, das Vereinigte Königreich, Spanien und Gastgeber Niederlande war der Abend dennoch wohl mehr ein Albtraum. Trotzdem war es schön zu sehen, wie die Länder ihre null Punkte feierten. Was sollten sie denn auch anderes tun? Verdient hatten sie es alle nicht. Aber landet man eben in vielen Ländern nur im Mittelfeld, bekommt man keine Punkte, auch wenn man nirgendwo letzter war.

YouTube-Star Nikkie de Jager war Moderatorin beim Song Contest.
Foto: Sander Koning / POOL

Eine weitere Siegerin gibt es übrigens noch zu vermelden. Nikkie de Jager, war als NikkieTutorials ein YouTube-Phänomen. Als der niederländische Sender sie als Moderatorin ankündigte, musste man vermuten, sie würde für Web-Interviews oder ähnliches eingesetzt. Aber sie kam, glänzte und siegte und ist jetzt in der oberen Liga der Moderatorinnen angelangt. Sie überragte alle, nicht nur aufgrund ihrer Größe.

Österreichische Perspektiven

Der österreichische Kandidat Vincent Bueno musste sich das Finale zuhause anschauen. Bei seiner Familie und Kindern zu sein wird ihn getröstet haben Der Song "Amen", komponiert in einer Komponisten-Werkstatt rund um den Schweizer Produzenten Pele Loriano, war womöglich doch zu berechnend, eine zu oft gehörte Formel mit wenig Originalität.

Auch der ORF wird sich die Frage stellen müssen, auf welches Pferd er zukünftig setzen will. Will man weiter Songs aus den Songwriting-Camps, oder setzt man auf Künstler, die ihre Musik selbst schreiben oder zumindest wissen, was sie wollen? Zugegeben: Pænda war so ein Versuch einer Sängerin und Songwriterin. Auch sie scheiterte 2019 in Tel Aviv.

Der ORF hat mit einem zusätzlichen Problem zu kämpfen. Noch immer wollen viele etablierte und erstaunlich viele weniger etablierte Künstler am ESC lieber nicht anstreifen. Das ist schade, denn gerade in den letzten Jahren bewiesen zahlreiche Acts – allem voran auch jene, die nicht gewannen! – das Erfolge möglich sind, dass man Zielgruppen und Fangruppen erweitern kann. Sébastien Tellier wurde 2008 nur 18. Aber seine Musik und seine Konzerte sind seitdem international ausgebucht. The Common Linnets und Anouk sind ebenso hervorragende Beispiele. Daði Freyr hat noch vor dem Finale des Song Contest eine Tour durch UK und USA angekündigt. Er hatte schon vorab gewonnen, das Resultat in Rotterdam war dann nur noch Bonus.

Ein bisschen mehr Mut würde einem österreichischen Act gut stehen. Im übrigen war Indie schon länger nicht mehr beim ESC zu hören. Auch dafür gäbe es Platz und in Österreich eine sehr innovative Szene. Måneskin hat jedenfalls ein Tor weit aufgemacht Neues auszuprobieren. (Marco Schreuder aus Rotterdam, 23.5.2021)