Unserdeutsch entstand vor etwas mehr als 100 Jahren in der katholischen Mission in Vunapope, Papua-Neuguinea.

Foto: Lena Aristarkhova-Schmidtkunz

Fast wäre es dem Unserdeutschen ergangen wie dem Ali-Deutschen, das dem Hörensagen nach auf der winzigen Südseeinsel Ali-Island gesprochen wurde und wohl in den 1970er-Jahren unerforscht ausgestorben ist. Craig Volker entdeckte Unserdeutsch, die weltweit einzige bekannte deutschbasierte Kreolsprache, zufällig.

Der Linguist lehrte in den 1970ern Deutsch im australischen Queensland und fragte seine Schüler, ob sie die Sprache verstehen würden. Ein Mädchen antwortete in einem eigenartigen, aber verständlichen Deutsch, dass sie es zu Hause gelernt habe – in Papua-Neuguinea. Volker forschte nach und lieferte die erste Beschreibung des Unserdeutschen.

Waisen in der katholischen Mission

Dieses klingt zum Beispiel so: Wi hat ferti mehr schnell. Übersetzt bedeutet das: Wir sind schneller fertig. Heute sprechen nur noch rund 100 Menschen Unserdeutsch. Alle sind betagt, die meisten leben nicht mehr in Papua-Neuguinea. Seit einigen Jahren dokumentieren Forscher aus Deutschland und der Schweiz die Sprache, um sie für die Wissenschaft zu erhalten.

Unserdeutsch entstand auf der Insel New Britain in Papua-Neuguinea.

Lena Schmidtkunz erforscht an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen Unserdeutsch. Die Sprache ist gleich mehrfach interessant, sagt die Wienerin. Da ist etwa der historische Kontext, in dem die Sprache entstand: 1884 hissten deutsche Soldaten ihre Flagge auf der Insel Neubritannien im Bismarck-Archipel, 30 Jahre lang blieb das Gebiet deutsche Kolonie.

Die katholische Mission in Vunapope nahm Kinder auf, die aus Verhältnissen zwischen den Kolonialisten und der indigenen Bevölkerung hervorgingen, und erzog sie im Internat in deutscher Sprache zum katholischen Glauben. Die Kinder waren Waisen: Für die Kolonialherren waren sie zu dunkelhäutig, für die indigene Bevölkerung waren sie zu hellhäutig.

Koloniale Realität

Unserdeutsch entstand in den Schlafsälen der Mission, die Kinder nannten ihre Sprache "Kaputtene Deutsch" oder "Falsche Deutsch". Der Wortschatz ist Deutsch, die Grammatik hat viel von Tok Pisin, dem auf Papua-Neuguinea vorherrschenden Kreol-Englisch.

Die Kinder konnten ihre Mischsprache sprechen, ohne Prügel zu riskieren – es war ja eine Art von Deutsch. Trotzdem ist Unserdeutsch eine eigene Sprache, die den Waisen eine Identität gab. Unter ihnen kam es später zu erzwungenen Ehen, die daraus hervorgegangenen Kinder lernten Unserdeutsch als Muttersprache. Die koloniale Realität in Deutsch-Neuguinea wurde sprachlich konserviert.

Unserdeutsch entstand in den Schlafsälen der Mission. In der Wissenschaft heißt die Sprache "Rabaul Creole German".
Foto: Lena Aristarkhova-Schmidtkunz

Besondere Kreolsprache

Die Kreolsprache ist auch linguistisch besonders. "Wenn wir Sprachwandel erforschen, haben wir es meist mit extrem langen Prozessen zu tun", erklärt Schmidtkunz: "Beim Unserdeutschen wissen wir, wann und wo es entstanden ist. Wir kennen sogar alle beteiligten Akteure beim Namen." Die Sprache eigne sich gut, um gängige Hypothesen der Kreolistik zu überprüfen – und um Sprachwandel zu erforschen.

Kreols entstehen, wenn einer marginalisierten Gruppe die Sprache der herrschenden Gruppe aufgezwungen wird. Das Kreol-Englische in Jamaika ist ein Beispiel, das französisch-basierte Kreol von Haiti auch. Kreolsprachen vermischen das Vokabular der Sprache der Kolonialherren mit strukturellen Elementen indigener Sprachen.

"i arbeit fi du"

Kreolsprachen entstanden häufig unter erwachsenen Sklaven, etwa auf Plantagen in Kolonialgebieten. Kinder spielen immer eine Rolle – ein Kreol gilt erst als eigene Sprache, wenn es von einer Generation als Muttersprache erworben wird. Unserdeutsch sticht heraus, es entstand von Anfang an unter Kindern.

Das scheint die Hypothese zu nähren, dass Kreolsprachen die zugrunde liegende Sprache mangels hinreichender Sprachkenntnis stark simplifizieren. Der Eindruck trügt aber: Briefe der Waisen aus Vunapope zeigen, dass diese auch Deutsch einwandfrei beherrschten. Unserdeutsch ist nicht entstanden, weil "richtiges" Deutsch für die Kinder zu schwierig war, erklärt Schmidtkunz.

Deutsch ist phonologisch komplex, Unserdeutsch beseitigt Konsonantencluster wie pf oder tz. Nicht wird etwa zu ni, für wird zu fi, sagt zu sa und Pflanzung (Plantage) zu Flansung. Auch in der Pluralbildung vereinfachten die Kinder die Sprache. Plural wird im Userdeutsch nicht am Wort markiert, sondern mit einem eigenen Wort. Statt Haus/Häuser sagt man Haus / alle Haus. Das ist typisch für Kreols, Sprecher müssen das Wort nur im Singular erlernen, um den Plural bilden zu können.

Immer wieder findet man in Vunapope Relikte aus der Zeit des deutschen Kolonialismus – wie zum Beispiel eine Glocke mit deutscher Inschrift aus dem frühen 20. Jahrhundert.
Foto: Lena Aristarkhova-Schmidtkunz

Sprachwandel im Zeitraffer

Ein Satz, der Vereinfachungen bei Phonologie und Plural zeigt, ist: Er malen alle plan fi bauen alle haus. Übersetzt: Er hat die Pläne für den Bau der Häuser gezeichnet.

Anderseits gibt es im Unserdeutschen einen stärkeren Progressiv als im Deutschen, vergleichbar mit der englischen "-ing"-Form. Die Kinder haben die Komplexität erhöht, wenn sie etwa sagen: Du bis am sprechen von frühere Zeit.

An Kreolsprachen könne man Prozesse des Sprachwandels quasi im Zeitraffer beobachten, sagt Schmidtkunz. Interessant sei dabei, dass manche Gesetze scheinbar auf allen Ebenen gelten.

Kinder lernen Verbkategorien wie Aspekt zuerst. Ein Aspekt drückt aus, wie sich die beschriebene Handlung relativ zur betrachteten Zeit erstreckt – etwa ob sie abgeschlossen ist. Später lernen Kinder Tempus, also Zeiten, wie Vergangenheit und Zukunft. Modus – wie Konjunktiv oder Imperativ – erwerben sie als letzte Kategorie.

Eines der Häuser der katholischen Mission, in denen die Waisenkinder lebten.
Foto: Lena Aristarkhova-Schmidtkunz

Bald ausgestorben

Die Reihenfolge gilt auch für die Entstehung ganzer Sprachen. Beim Verlust der Sprache gehen die komplexeren Kategorien zuerst verloren – egal ob ein Individuum an Aphasie leidet oder eine Sprache ausstirbt. Modus stirbt zuerst, dann Tempus und so weiter. Unserdeutsch passt ins Schema. Der Gebrauch des Aspekts ist verglichen mit Deutsch komplex, Tempus und Modus sind unterkomplex.

Mit einem Alter von etwas mehr als hundert Jahren ist Unserdeutsch eine der jüngsten Sprachen der Erde. Ihr baldiger Tod ist aber besiegelt, junge Muttersprachler gibt es nicht. Die Wissenschaft wird Unserdeutsch nicht vergessen. (Aloysius Widmann, 26.5.2021)