Die Zahl der Studierenden hat sich in vielen Ländern und auch in Österreich in den vergangenen Jahren kontinuierlich erhöht.

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Wer in den 1970er-Jahren in Österreich studierte, war durchaus etwas Besonderes. Immerhin gehörte er oder sie (höchstwahrscheinlich er) damit zu der dreiprozentigen Minderheit, der nach dem Studium Tür und Angel für gute Jobs, Gehälter und Karriere offenstanden. 50 Jahre später sieht die Sache freilich anders aus: Da haben rund zehnmal mehr und damit rund ein Drittel aller erwachsenen Menschen in Österreich einen Hochschulabschluss. Für viele ist das Studium gewöhnlich geworden, manche sehen mit einem reinen Bachelor-Abschluss noch wenige Perspektiven am Arbeitsmarkt.

Für den britischen Autor David Goodhart sind das Zeichen einer "Überakademisierung" unserer Gesellschaft. Studiert zu haben bedeute nicht, die erworbenen Kenntnisse später auch im Beruf umsetzen zu können, geschweige denn, gebildeter zu sein, schreibt Goodhart in seinem neuen Buch "Kopf, Hand, Herz – Das neue Ringen um Status", das seit einiger Zeit für Diskussionen sorgt. Viele Universitäten seien zu "Massen-Unis" geworden, mit sinkenden Anforderungen und Qualitätsansprüchen.

Zu viel Status für "Kopfarbeiter"

Je mehr Menschen studieren, desto mehr von ihnen arbeiten in Positionen, für die ein Studium nicht nötig wäre – etwa weil es eher darum geht, sich im Betrieb auszukennen und mit Menschen umgehen zu können. Gleichzeitig werden dadurch Positionen für Menschen verbaut, die kein Studium hinter sich haben, so Goodharts These.

Statt den "Kopfarbeitern" und "Schreibtischmenschen" in unseren Gesellschaften so viel Status und Einkommen zu geben, sollten wir lieber die vielen sozialen und handwerklichen Jobs aufwerten, findet Goodhart. Nicht zuletzt habe die Corona-Pandemie gezeigt, dass die "systemrelevanten" Berufe wie Pflegerinnen, Kassiererinnen oder Mechanikerinnen – von Goodhart vereinfacht als "Herz- und Handberufe" bezeichnet – oftmals kein Studium besitzen.

Zahlt sich Studieren noch aus?

Für bare Münze sollte man Goodharts These, wonach es bereits zu viele Akademiker gebe, allerdings nicht nehmen. Denn auf rein finanzieller Ebene zahlt sich studieren für die Mehrheit nach wie vor aus. Laut einer Studie des Münchner Ifo-Instituts verdienen Akademiker im Lauf ihres Lebens im Durchschnitt rund 300.000 bis 500.000 Euro mehr als Menschen, die eine Lehre gemacht haben. Besonders viel verdienen nach dem Studium Mediziner und Juristen. Studierte Sozialarbeiter verdienen zwar verhältnismäßig weniger, aber trotzdem mehr als Menschen mit einer Lehre, heißt es in der Studie.

Auch die Arbeitslosigkeit ist unter Akademikern tendenziell niedriger. 2020 waren in Österreich laut AMS 3,4 Prozent aller Akademiker arbeitslos und damit weit weniger als der Gesamtdurchschnitt von 8,6 Prozent. Die Mehrheit der arbeitslosen Akademiker kommt laut AMS aus den beliebtesten und größten Studiengängen. Nach technischen Studienabschlüssen ist die Aussicht auf einen Job hingegen besonders hoch.

Vor allem ausländische Akademiker überqualifiziert

Natürlich kommt es auch vor, dass Akademiker in einem Job arbeiten, für den sie – formal gesehen – überqualifiziert sind. Laut einer Studie der Arbeiterkammer Oberösterreich aus dem Jahr 2019 trifft das immerhin auf 18 Prozent der Beschäftigten zu. Allerdings dürfte der Grund nicht allein darin liegen, dass es generell zu viele Akademiker gibt: Denn es sind vor allem Akademiker aus dem Ausland, die Deutsch nicht akzentfrei sprechen, welche laut den Studienautoren am Arbeitsmarkt diskriminiert werden und unter denen die Überqualifikation besonders hoch ist.

Nicht zuletzt argumentieren viele, dass es beim Studieren nicht nur um Karriere- und Jobaussichten – also ökonomische Perspektiven – gehen sollte. Immerhin kann das Studium auch einen individuellen und gesellschaftlichen Wert haben, der über ökonomisch messbare Kategorien hinausgeht – beispielsweise was die Entwicklung der Persönlichkeit und des kritischen Geistes betrifft. Darum geht es Goodhart zwar nicht, wie er explizit erwähnt, trotzdem kann und sollte der Aspekt laut vielen Bildungsexperten nicht völlig ausgeblendet werden.

Sind nur Menschen ohne Studium systemrelevant?

Bei Goodharts Argument, wonach vor allem Menschen ohne Studium systemrelevant sind, wird es etwas heikel. Denn wohl kaum jemand würde behaupten, dass unsere Gesellschaften ohne studierte Ärzte und Ärztinnen, Virologen, Juristinnen oder Forscher und Forscherinnen langfristig gut zurechtkäme.

Und was ist mit der Pflege? Auch dort sollen mehr Beschäftigte künftig einen Studienabschluss mitbringen – ein internationaler Trend, der auch in Österreich Einzug hält. Der Grund: In der Pflege steigen die Komplexität und die Anforderungen. Das hat für viele nicht zuletzt die Corona-Pandemie und die Situation auf den Intensivstationen gezeigt.

Welchen Wert hat Leistung?

Wo Goodhart wohl recht hat, ist, dass es die "Hand- und Herzberufe" ebenso braucht wie die "Kopfberufe". Mit einer Welt voller Akademiker wäre niemandem geholfen. Diktatorisch von oben diktieren lässt sich die Verteilung aber nicht. Schließlich sollte jeder selbst die Freiheit haben, sich für eine bestimmte Ausbildung und einen bestimmten Beruf zu entscheiden, meinen viele.

Nicht zuletzt hat auch die Diskussion, welchen Wert Arbeit und bestimmte Ausbildungen und Berufe in der Gesellschaft haben und haben sollten, Fahrt aufgenommen. Laut Goodhart messen unsere Industrienationen sozialer und emotionaler Arbeit und Intelligenz einen geringeren Stellenwert zu als Arbeiten, die sich leichter messen lassen, etwa in Einkommen oder Warenwert. Er ist nicht der Einzige, der fordert, etwa die Hausarbeit und häusliche Pflege künftig mehr anzuerkennen und wertzuschätzen, sie mitunter auch ins Bruttoinlandsprodukt einzubeziehen.

Von "Shit"- und "Bullshit"-Jobs

Für das Argument spricht, dass es tatsächlich viele gesellschaftlich wichtige, aber schlechtbezahlte Jobs gibt (man denke nur an die vielen Reinigungskräfte und Küchengehilfen), denen die sogenannten "Bullshit-Jobs", wie es der US-amerikanische Kulturanthropologe David Graeber nannte, gegenüberstehen: also jene Jobs, die eigentlich niemand braucht, die aber sehr gut bezahlt sind und die laut Graeber Titel wie Finanzstratege oder Private-Equity-Manager tragen.

Es sind ebenjene Kapitalismuskritiker wie Graeber, die vor einem Anstieg des Prekariats warnen – auch unter Akademikern und nicht zuletzt aufgrund der Digitalisierung und Automatisierung. Empirisch eindeutig belegen lässt sich das allerdings nicht. Eine im vergangenen Jahr veröffentlichte Studie kommt sogar zu dem Ergebnis, dass sich Beschäftigte in Großbritannien, den USA und Deutschland in ihrem Job heute nicht unsicherer fühlen als noch vor zwei Jahrzehnten – und zwar quer durch alle Bildungs-, Alters- und Berufsgruppen.

Mehr Akademiker gefordert

Dass sich der Bedarf nach den "Hand- und Herzberufen" durch die Digitalisierung und Automatisierung in Zukunft noch erhöhen wird, wie Goodhart prophezeit, mag durchaus stimmen. Immerhin werden Roboter und Maschinen menschliche Zuneigung und Hilfe in Krankenhäusern oder Pflegeheimen wohl auch in baldiger Zukunft kaum ersetzen können.

Was nicht heißt, dass ein Studium deshalb an Bedeutung verliert. Ganz im Gegenteil, wie Experten und Industrievertreter durch die Bank betonen. Die Nachfrage nach Akademikern und gut gebildeten Fachkräften steigt in vielen Branchen. Anstatt Menschen vom Studieren abzuhalten, sollte lieber die Drop-out-Quote reduziert werden, heißt es von vielen Bildungsexperten. Vor allem aber sollten die Menschen ermutigt werden zu studieren, wenn sie das wollen, und das zu studieren, wo ihr Interesse liegt. Dann kann sich Studieren – auch unabhängig vom späteren Beruf – auf jeden Fall bezahlt machen. (Jakob Pallinger, 28.5.2021)