Michael Brenner will kein Forscher im Elfenbeinturm sein. Er mischt sich ein, stellt sich gegen Antisemitismus, kritisiert die AfD und betrachtet Geschichtsschreibung auch mit einem aktuellen Blick und Anspruch. Der Historiker, der sich mit der jüdischen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert beschäftigt, bekommt am Dienstag den Salo-W.-und-Jeannette-M.-Baron-Preis verliehen. Der Preis wurde heuer erstmals von der Universität Wien und der Knapp Family Foundation verliehen. Er soll an Salo Wittmayer Baron erinnern, der als einer der Begründer der Jewish Studies in den USA gilt. Neben einem Hauptpreis sollen alle zwei Jahre auch zwei Nachwuchspreise vergeben werden.

Baron, 1895 in Tarnów in der damaligen Habsburgermonarchie geboren, studierte in Wien, emigrierte in die USA und lehrte ab 1930 an der Columbia University. Er ist der "wissenschaftliche Großvater" von Brenner, dessen Doktorvater einst selbst bei Baron promovierte. Für Michael Brenner, der in Weiden in der Oberpfalz aufgewachsen ist, schließt sich somit ein Kreis in seiner wissenschaftlichen Karriere, die er im Moment selbst in Europa und den USA führt. Brenner lehrt sowohl in München als auch an der American University in Washington und beschäftigt sich neben der europäischen jüdischen Kultur auch intensiv mit der Geschichte des Staates Israels.

STANDARD: "Die sprichwörtlichen Koffer, schon lange ausgepackt und ausgeleert, stehen bei vielen Juden in Deutschland noch auf dem Dachboden. Wir sollten sie herunterholen." Das haben Sie vor zwei Jahren kurz nach dem Anschlag in Halle geschrieben. Wie sehen Sie die Situation heute?

Brenner: Ich denke, es hat sich nichts Grundlegendes verändert. Die Umfragen zeigen: Der Antisemitismus ist weiter in der Gesellschaft präsent. Corona-bedingt ist das ganze Feld der Verschwörungstheorien dazugekommen. Auch wenn diese nicht immer explizit antisemitisch sind, weiß man, dass sie meistens auch etwas mit Juden zu tun haben, weil sie das älteste zur Verfügung stehende Feindbild sind. Es gibt schon im Mittelalter die Legende, dass Juden die Brunnen vergiftet hätten, und dann – am berüchtigtsten vielleicht – die Protokolle der Weisen von Zion, die von einer jüdischen Weltverschwörung ausgehen. Immer wieder taucht das in Verschwörungstheorien auf.

Zuletzt erschien 2019 von Michael Brenner "Der lange Schatten der Revolution. Juden und Antisemiten in Hitlers München 1918–1923".
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STANDARD: Sie haben in einem Artikel im Jahr 2019 mit Bezug auf den Antisemitismus geschrieben: "Haben wir uns getäuscht?" Worin haben Sie sich getäuscht im Zuge Ihrer historischen Forschung?

Brenner: Ich denke, Historiker ändern ihre Perspektiven in dem Maße, in dem sich die Gesellschaft verändert. Das trifft auf mich genauso zu. Ich war vor zehn oder zwanzig Jahren nicht der Meinung, dass wir es mit einem doch so massiven Wiederaufleben des Antisemitismus in Europa zu tun haben werden. In der Einschätzung der Gegenwart war ich optimistischer.

STANDARD: Sie lehren in den USA und auch in Deutschland: Sehen Sie hier einen Unterschied?

Brenner: Ich habe leider in den vier Jahren der Trump-Regierung eine Zunahme dieser irrationalen Thesen wahrgenommen und auch vieler demokratiefeindlicher Thesen. Wenn man diese hört, ist der Antisemitismus nicht mehr weit entfernt. Aber es gibt schon einen Unterschied zwischen den USA und Europa. Das hat damit zu tun, dass der Antisemitismus historisch gesehen nicht so stark ausgeprägt ist in der US-amerikanischen Gesellschaft. Zum anderen gibt es in den USA eine doch sehr viel größere jüdische Gemeinschaft, es ist ein natürlicheres Umgehen miteinander aufgrund des Fehlens der Shoah und der jahrhundertelangen Verfolgungsgeschichte in Europa.

STANDARD: Sie veröffentlichen auch immer wieder aktuelle Debattenbeiträge. Ist das Ihr Zugang, wie Geschichte zu erzählen ist?

Brenner: Ja, aber es ist auch schwer für einen Historiker, der sich mit der jüdischen Geschichte des 20. Jahrhunderts beschäftigt, zu sagen: Die Gegenwart geht mich nichts an. Man wirft immer den Blick von seinem eigenen Standpunkt aus in die Vergangenheit. Historiker sind zumindest nicht schlechter qualifiziert als andere, über die Gegenwart zu schreiben und gewisse Lehren aus der Vergangenheit anzuwenden.

STANDARD: Die jüdische Geschichte ist in den letzten 200 Jahren auch eine Geschichte der ständigen Legitimation. Was macht das mit der Geschichtsschreibung, wenn man andauernd eine Geschichte der Auseinandersetzung schreiben muss?

Brenner: Dieser Punkt ist schon im 19. Jahrhundert relevant. Damals überlegte die aufkommende Wissenschaft des Judentums, welche Themen sie wie behandelt, damit sie den Kampf um die Emanzipation nicht verliert. Sie wollten auch mit ihrem Werk keine Waffen für die Gegner liefern. Ich habe versucht, das in meinem Buch Propheten des Vergangenen zu beschreiben. Bis heute stellt man sich die Frage: Wie formuliert man gewisse Thesen, damit sie auch bei einem breiteren Publikum richtig ankommen und nicht missverstanden werden? Das ist tatsächlich eine große Herausforderung.

STANDARD: Was bewirkt dieses Abwägen?

Brenner: Da kommt die Wissenschaft immer in eine prekäre Situation. Wir wollen jüdische Geschichte so schreiben, wie wir jede andere Geschichte schreiben. Das heißt, wenn es im 20. Jahrhundert jüdische Gangster in Amerika gab, dann sollten wir das auch beschreiben. Juden waren ja keine Engel, sie waren nicht besser und sind auch nicht schlechter.

STANDARD: Sie bekommen für Ihre Arbeit den neugestifteten Baron-Preis. Baron begann in den USA in den 1920er-Jahren zu lehren. Was ist der größte Unterschied einer jüdischen Geschichtsschreibung vor und nach dem Holocaust?

Brenner: Die große Herausforderung besteht darin, die jüdische Geschichte nach dem Holocaust nicht zu einer bereinigten Geschichte zu machen. Wir wollen die jüdische Geschichte in allen Licht- und Schattenseiten darstellen; das ist natürlich nach so einem Kapitel nicht leicht. Wir wollen nicht, dass die gesamte jüdische Geschichte durch die Linse des Holocausts gesehen wird.

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Salo Wittmayer Baron beim Prozess gegen Adolf Eichmann 1961 in Jerusalem.
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STANDARD: Sie haben Salo Baron noch kennengelernt. Wie hat Baron die Geschichte erzählt?

Brenner: Als ich Salo Baron kennenlernen durfte, war er schon über 90 Jahre alt. Als junger Historiker hat er den Aufsatz "Ghetto and Emancipation" geschrieben: Darin hat er sich gegen vieles gewandt, was in der jüdischen Geschichte als selbstverständlich galt. Ghetto ist für ihn ein Begriff für das vormoderne Judentum. Das Ghetto war nicht so dunkel, wie man es wahrnimmt, aber auch die Emanzipation ist nicht so hell. Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit war die jüdische Geschichte keine reine Verfolgungsgeschichte. Den Juden ging es oft besser als vielen anderen, zum Beispiel der bäuerlichen Bevölkerung. Es gab natürlich Vertreibungen und Verfolgungen, aber nicht immer und nicht überall. Baron hat sich gegen das gewandt, was man auf Deutsch übersetzt vielleicht als weinerliche Geschichte bezeichnen würde. Die jüdische Geschichte ist voll von Freude wie auch Leid.

STANDARD: Und im Bereich der Emanzipation – wie urteilt hier Baron?

Brenner: Im zweiten Teil seines Aufsatzes argumentiert er, dass es falsch ist zu glauben, dass mit Beginn der Emanzipation die jüdische Geschichte nur noch von Licht bestrahlt wird und eine einzig positive Geschichte der Integration ist. Er hat schon 1928 festgestellt, dass der moderne Staat eine größere Bedrohung für die jüdische Minderheit ist, als es die mittelalterliche oder frühmoderne Gesellschaft war oder als es die Kirche war. Der moderne Nationalismus birgt Gefahren, die es davor nicht gab.

STANDARD: Die Emanzipation hat dazu geführt, dass der Staat an sich selbst bedrohlicher wurde für die jüdische Bevölkerung.

Brenner: Die Juden benötigten die Emanzipation weniger als der Staat, sie wollten die Emanzipation oftmals nicht. Sie mussten ja auch einen Preis zahlen, mussten sich anpassen, ihre Namen ändern, ihre Kleidung ändern, ihre Berufe ändern. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden sie in dem neu aufkeimenden Rassismus zum Teil als "Rasse" wahrgenommen. Ab dem Moment gibt es keinen Ausweg mehr durch die Taufe.

STANDARD: Die Frage, die ich in Ihrem letzten Buch, aber auch in Ihren Debattenbeiträgen entnehme, ist: Wie erkennt man die Anfänge, oder erkennt man sie erst, wenn sie nicht mehr die Anfänge sind?

Brenner: Das Problem liegt darin, dass man die Anfänge nicht erkennen kann. Auch 1930 war es nicht vorgegeben, das Hitler 1933 Reichskanzler werden würde. Die Geschichte hätte auch anders verlaufen können. Man sieht Dinge zusammenbrauen und muss als politisch aktiver Mensch darauf reagieren. Nicht weil man die Gewissheit hat, sondern weil sich hier etwas entwickeln könnte. Es ist historisch falsch, den deutschen Juden vorzuwerfen, dass sie 1933 es nicht gesehen haben. Man konnte auch 1935 den Holocaust nicht voraussehen, auch weil er nicht geplant war. Wir sagen immer: Wehret den Anfängen! Das hat auch eine gewisse Berechtigung, weil bestimmte Entwicklungen besorgniserregend sind. Aber es gibt keine Zwanghaftigkeit von weiteren Entwicklungen. Das hängt auch davon ab, wie viele sich gegen bestimmte antidemokratische Bewegungen stellen. Hätte sich 1933 ein größerer Teil der deutschen Bevölkerung dagegen gewendet, hätte es auch eine andere Entwicklung geben können.

STANDARD: Wir sind gegen Ende der Pandemie, wir wissen auch nicht, wie die gesellschaftlichen Entwicklungen sind und ob diese gut ausgehen.

Brenner: Ich kann es nur aus der Perspektive des Historikers erzählen. Hypothetisch, wenn Hitler 1933 nicht an die Macht gekommen wäre und es den Holocaust nie gegeben hätte – wie würden wir heute die Geschichte der Juden der 1920er-Jahre erzählen? Auch wenn die Geschichte der Juden in den 1920er-Jahren nicht anders verlaufen wäre, weil sie ja vorbei war, so würden wie sie dennoch anders erzählen. Dann hätten wir vielleicht die Geschichte einer erfolgreichen Emanzipation geschrieben. Wir erzählen immer Geschichte aus den Blickwinkeln, die uns zur Verfügung stehen.

STANDARD: Die Geschichte des Holocausts wird auch über Zeitzeugen erzählt. Es gibt nun immer weniger Holocaust-Überlebende. Wie wird das die Forschung und auch das Erinnern verändern?

Brenner: Es gibt kaum noch Zeitzeugen, die erzählen können, was sie als halbwegs erwachsene Menschen erlebt haben. Ich habe selber erlebt, wie eindrucksvoll das sein kann. Meine Mutter ist als Holocaust-Überlebende selber in Schulen gegangen, manchmal bin ich auch mitgegangen. Ich habe da gemerkt, es sind nicht die Worte allein, die wirken, es sind die Gesten. Sie hat dann an Stellen, wo man es nicht erwartet hat, Humor hineingebracht. Dann hat sich die Stimmung richtig befreit in den Klassenzimmern. Das kann man nur nachvollziehen, wenn man es selber erlebt hat. Ich kenne ihre Geschichte in- und auswendig. Aber das kommt natürlich nicht so rüber. Insofern ist dieser Verlust tatsächlich unersetzbar. Mit diesem Verlust rückt diese Zeit ein Stück weiter in die Vergangenheit. (Sebastian Pumberger, 25.5.2021)