Am 12. Juni 2021 jährt sich H. C. Artmanns Geburtstag zum 100. Mal. Die Kindheit des großen österreichischen Dichters fiel noch in die Zeit der Anfänge der Hörfunkgeschichte in Österreich und war vor allem von Lesen und Kinobesuchen geprägt, doch wusste er schon relativ früh Medien und Archive zu nutzen.
Das Ende des Zweiten Weltkriegs, in dem er schwer verwundet wurde und aufgrund mehrerer Desertionsversuche immer wieder inhaftiert war, bedeutete für ihn nicht nur einen existenziellen Befreiungsschlag, sondern auch den Beginn eines Lebens als Dichter, wie er sich sogleich zu bezeichnen beliebte, auch wenn er zu jenem Zeitpunkt nur wenige Gedichte verfasst und keines davon veröffentlicht hatte.
Doch bereits 1948 wurde seine Lyrik zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentiert – und zwar in Form eines akustischen Erlebnisses, einer Übertragung im Sender Radio Wien. Das ist ebenso beachtlich wie die vielen im Laufe seines Lebens folgenden Lesungen des Autors. Zahlreiche Hördokumente machen seine Auftritte vor Publikum als beeindruckende Klangerlebnisse zugänglich. In der Österreichischen Mediathek reichen diese vom Jahr 1969, als Artmann ein über halb Europa verstreutes unstetes Leben führte, bis ins Jahr 1997, als er den Georg Büchner-Preis erhielt. Hervorzuheben sei hier ein Dokument von zeithistorischem Wert, nämlich die Verlesung des "Manifests", das Artmann zwei Tage nach Unterzeichnung des Staatsvertrags am 17. Mai 1955 gegen die Wiederbewaffnung Österreichs verfasst hatte und 1984, als Beitrag zur Friedensbewegung der 1980er Jahre, als Vorspann zu einer Lesung vortrug.
Literarische Experimente
In den frühen Interviews ist an der Einsilbigkeit sowie an der Vehemenz so mancher Antworten Artmanns skeptische Haltung gegenüber dem Kulturkonservativismus in Österreich zu erkennen: Heftig verwehrte er sich in einem Gespräch mit Erhard Löcker vom 8. Mai 1969 gegen den Begriff der sogenannten Wiener Gruppe als Erfindung der deutschen Literarhistoriker. Sie – damit meint er Friedrich Achleitner, Konrad Bayer, Gerhard Rühm, Oswald Wiener und sich selbst – seien nie eine Gruppe oder ein Club, sondern "eine vollkommen freie Kameraderie", ja Freunde gewesen. Das kulturelle Ghetto der 1950er Jahre habe sie hart gemacht, und genau dies habe den Nährboden für das literarische Experiment bereitet. Beharrlich lehnte er die Kategorisierungsversuche seiner Texte in anderen Interviews ab und hielt ihnen Hybridbegriffe wie "lyrische Prosa" beziehungsweise "prosaische Lyrik" entgegen.
Einen völlig anderen Ton schlug er in seinen Lesungen an, indem er mit seiner Stimme in schwebender Tonlage einen regelrechten Wortgesang anstimmte. Dadurch trat das Musikalische seiner Sprachgebilde – die Melodie, der Rhythmus, das Tempo, die Lautmalerei – besonders deutlich zutage. Das äußerst helle "i", das offen gesprochene "ä", die deutliche und deshalb völlig unwienerische Unterscheidung zwischen harten und weichen Konsonanten – daran erkennt man den Zugang des konkreten Poeten, der er freilich in einer besonderen Ausformung auch war: Die Sprache war ihm lustvoll einzusetzendes Laut- und Formmaterial.
Wenn man genau hinhört, erkennt man, wie exakt seine Zunge die jeweiligen Artikulationsstellen im Mundraum fand und wie leicht der Sprachbesessene sich jeder Sprache und ihren Ausspracheregeln virtuos anpassen konnte. Das leichtfüßige Wechseln von einer Sprache in die andere ist nicht nur ein Kennzeichen seines Schreibens, sondern auch seines Sprechens, wie man in den Interviews nachhören kann.
Quer durch die Genres
Nach der Zeit des Nationalsozialismus, welche mit ihrer restriktiven Bildungs- und Kulturpolitik – durch Zensur, das Verdikt "entarteter Kunst" und Bücherverbrennungen – der damals heranwachsenden Generation große Bildungslücken verursacht hatte, begann der Mitte Zwanzigjährige gleich nach Kriegsende Versäumtes nachzuholen und las alles, was ihm unter die Finger kam: die Surrealisten in der Privatbibliothek eines Gelehrten, Barockliteratur in der Österreichischen Nationalbibliothek und in den Bibliotheken seines jeweiligen Aufenthaltsortes Werke von lokaler Bedeutung. Dabei behandelte er alle Texte gleich, egal ob sie konventionellerweise der hohen oder trivialen Literatur zugerechnet wurden.
Schon früh hatte der aus einfachen Verhältnissen stammende Dichter sogenannte Groschenromane, Kinofilme und Jazz rezipiert; und nach dem Krieg waren es Comics und Popmusik, die ihn unter anderem faszinierten. All dies fand Eingang in seine Texte, sodass Artmann einer der Ersten im deutschsprachigen Raum war, der seine Texte der Popkultur öffnete. Comicfiguren aus Disneys Werkstatt, populäre Schauergestalten wie Dracula oder Trivialmythen wie das Donauweibchen bevölkern seine Text-Räume. Auch davon sind Film- und Tondokumente vorhanden, so zum Beispiel eine Aufzeichnung der Inszenierung des Einakters "die liebe fee pocahontas oder kasper als schildwache" im Theater im Konzerthaus (Wien) aus dem Jahr 1971.
Wegbereiter des Austropop
Als Artmann 1958 mit seinem im Wiener Dialekt gehaltenen Gedichtband "med ana schwoazzn dintn" einen überraschend großen Erfolg erzielte, erschienen die Gedichte noch im selben Jahr in der Vertonung von Ernst Kölz, interpretiert von seinem guten Freund Helmut Qualtinger in Schallplattenform. Unzählige weitere Vertonungen dieser und anderer Gedichte sollten folgen und finden bis heute ihre Fortsetzung, was auf die große Lebendigkeit von Artmanns Literatur hinweist. Auch bereitete er mit diesem Gedichtband den Weg für den Einzug des Dialekts in die österreichische Popmusik, auch bekannt als Austropop.
Artmann war selbst ein medialer Virtuose, der seine Reflexionen über den Vorgang des Dichtens verschiedenen Medien anvertraute. Wer hat seine Humanic-Werbung aus dem Jahr 1980, mit der er das österreichische Fernsehpublikum spaltete, nicht in Erinnerung? Artmann zählt in dem Kurzfilm die Silbenanzahl der Gedichtzeilen halblaut an den Fingern ab: erst fünf, dann sieben, dann wieder fünf Silben – es ist das Schema des japanischen Haikus, das er folgendermaßen ausfüllt: "bei de japana / drogns papiarene schtiefö / des hast daun: gedicht." Mit lässiger Körperhaltung verknüpft er, der Sohn eines Schusters, den Werbeauftrag der Schuhfirma mit seiner Dichtkunst.
In der Dankesrede zum Georg-Büchner-Preis 1997 bezeichnete Artmann das Dichten im Allgemeinen "als Heimholen von Leben an sich" und im Speziellen, angesichts seiner eigenen Sprachlosigkeit gegenüber dem Realen, als Grenzgang. Artmann aber hatte sich vom Bezug auf das Reale gelöst, um aus Fülle des Sprachmaterials ohne Beschränkung schöpfen zu können, auch noch in dem knapp vor seinem Tod aufgenommenen Filmporträt "der wackelatlas – sammeln und jagen mit H.C. Artmann" (2001): Im Gespräch mit Emily Artmann und Katharina Copony holt er aus seinem Gedächtnis unzählige Reime, Sprüche, Sprachen und Stoffe hervor und lebte dabei förmlich auf. Diese letzten öffentlichen Szenen aus dem Leben des Dichters machen eines deutlich: H. C. Artmann beseelte das sich stets wandelnde Medium der Sprache. (Alexandra Millner, 9.6.2021)
Alexandra Millner ist Privatdozentin am Institut für Germanistik der Universität Wien sowie Präsidentin der Internationalen Gesellschaft H.C. Artmann. Für die Österreichische Mediathek beschäftigte sie sich mit Artmanns Archivaufnahmen.
Links
- Aufnahmen mit und über H.C. Artmann aus dem Onlinearchiv der Österreichischen Mediathek
- Internationale Gesellschaft H.C. Artmann
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