US-Außenminister Antony Blinken (links) und Israels Premier Benjamin Netanjahu sprachen über die Folgen des Waffenstillstands.

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Wenn das Waffenruhe sein soll, dann ist sie ziemlich laut. In Jerusalem heulen die Sirenen von früh bis spät. Nur ist es kein Raketenalarm, sondern das Folgetonhorn der Polizei und der Rettungsdienste, das die Geräuschkulisse beherrscht.

Bei einer Messerattacke in Ostjerusalem wurde am Montag ein Polizist verletzt, der palästinensische Angreifer wurde erschossen. Sicherheitskräfte stürmten in den frühen Morgenstunden das Wohnviertel des Terroristen. Wieder fielen Schüsse, ein Palästinenser starb. Bei einer Serie an Razzien in ganz Israel kam es zu mehreren Hundert Festnahmen mutmaßlicher palästinensischer Krawallmacher, darunter einiger Minderjähriger.

Dass die Polizei dokumentiertermaßen in manchen Fällen zuließ, dass jüdische Rechtsextreme israelische Araber attackierten, sorgt bei vielen Palästinensern für Zorn. Auf sozialen Medien wird schon zu neuen Protesten aufgerufen.

Von einer Beruhigung konnte also keine Rede sein, als US-Außenminister Antony Blinken am Dienstag nach Jerusalem kam, um dort und im nahen Ramallah nacheinander mit Vertretern Israels und der Palästinenser zu sprechen.

Sein erster Termin führte ihn zum israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu. Die beiden Politiker legten in ihren Statements unterschiedlich viel Gewicht auf die Frage, ob aus der Waffenpause irgendwann auch eine Beilegung des Konflikts werden kann.

Blinkens Talmud-Zitat

Er baue darauf, dass zu Beginn dieser Gespräche "die Anerkennung der enormen Verluste auf beiden Seiten" stehen müsse, sagte Blinken, der den jüdischen Talmud zitierte: Wer ein einziges Menschenleben rette, rette die ganze Welt. Dieser Satz, so Blinken, gelte auch für palästinensisches Leben.

Was daraus folgt, ist weniger klar. Die US-Regierung setzt sich für einen raschen Wiederaufbau in Gaza ein und will die dafür nötigen Gelder so weit wie möglich an der dort herrschenden Hamas vorbeilenken. Um dies zu ermöglichen, traf Blinken am Dienstagabend auch die Palästinenserbehörde in Ramallah, allen voran Präsident Mahmud Abbas. Abbas wird am Dienstag auch den jordanischen Außenminister treffen und hatte einen Tag zuvor dessen ägyptischen Amtskollegen getroffen.

Die Strategie der USA, mit Abbas eine Beruhigung der Lage herbeizuführen, hat aber ein Manko: Abbas steht selbst unter großem innenpolitischem Druck. Zwar hat Israel zuletzt wieder prominente Hamas-Figuren im Westjordanland festgenommen. Die Palästinenser nehmen Abbas aber übel, dass er die langersehnten Wahlen absagte.

Hamas als Schutzmacht

Diese Wahlen hätten vergangenes Wochenende stattfinden sollen. Abbas hatte sie aus Angst vor einer Niederlage gegen die Hamas auf unbestimmte Zeit verschoben. Den Sieg, wenn auch nicht an den Urnen, aber in der öffentlichen Meinung, bombte sich die Hamas herbei. Die Terrorbewegung wurde zwar nicht gewählt, steht jetzt aber als Schutzmacht Jerusalems da – bei den Palästinensern, aber auch in der arabischen Welt.

Das gilt auch für jene Länder, die sich eigentlich auf eine Normalisierung der Beziehungen mit Israel verständigt hatten. Marokkos Premierminister Saadeddine Othmani gratulierte der Hamas, die mit ihren Verbündeten mehr als 4000 Raketen auf Israel abgefeuert hatte, zum "Sieg des palästinensischen Volkes".

Teilweise Grenzöffnung

Israel hat indes der teilweisen Grenzöffnung Richtung Gaza zugestimmt. Nun dürfen Hilfslieferungen wieder stattfinden und Abgesandte internationaler Organisationen einreisen. Die Fischereizone wurde auf sechs Seemeilen ausgedehnt, und Patienten aus Gaza in kritischem Zustand können in israelische Spitäler transferiert werden. All das, so wird betont, steht unter dem Vorbehalt, dass sich Hamas an die Waffenpause hält.

Das ist zwar bisher der Fall. Die Hälfte der vor zwei Wochen mobilisierten israelischen Truppen ist aber weiter an der Grenze stationiert. Seit Sonntag fliegen immer wieder Brandballons aus Gaza über den Grenzzaun nach Israel, teils setzten sie Felder in Brand. Im Beisein Blinkens erklärte Netanjahu, dass die Hamas für jeden Raketenbeschuss mit einer "sehr mächtigen Reaktion" zu rechnen habe. (Maria Sterkl aus Jerusalem, 25.5.2021)