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Die Metropole Daressalam in Tansania: Afrikanische Städte legen einen enormen Wandel hin.

Foto: Getty Images/Moiz Husein

Nicolas Sarkozy hatte es vermutlich nicht einmal böse gemeint. Auf seiner ersten Afrika-Reise als französischer Präsident wollte er das chronisch gestörte Verhältnis der ehemaligen Kolonialmacht zu ihren "Besitztümern" auf eine neue Grundlage stellen und kam vor Studenten in der senegalesischen Hauptstadt Dakar auf die "afrikanische Tragödie" zu sprechen. Der Kontinent sei "noch nicht wirklich in die Geschichte eingetreten", philosophierte Sarkozy: Der "afrikanische Kleinbauer" kenne "mit seinen immergleichen Gesten und Worten nur die ewige Wiederholung der Zeit". In diesem "intellektuellen Raum", schloss der Staatschef, sei "weder für herausragende menschliche Taten noch für die Idee des Fortschritts Platz". Die Studenten schnappten nach Luft.

Den Skandal hatte der Präsident gewiss nicht absichtlich ausgelöst: Er hatte sich lediglich der in Europa vorherrschenden Gedankenwelt bedient. Wie anders lässt sich schließlich erklären, dass unser südlicher Nachbarkontinent partout nicht vorwärtskommt: dass er sich weder aus der Erstarrung noch aus deren Zwillingsschwester, dem Chaos, befreien kann. Afrika wird bekanntlich von immer neuen Wellen an Kriegen, Katastrophen und Krankheiten überrollt: Frieden, Freiheit und Fortschritt scheinen dem Kontinent fremd zu sein. "Afrika hat keine Zukunft", urteilte der indisch-britische Weltenbummler V. S. Naipaul.

Keine Zukunft ohne Geschichte

Wer keine Zukunft hat, hat auch keine Geschichte. Deshalb werden die ägyptischen Pharaonen dem Nahen Osten zugerechnet, die mittelalterliche Bibliothek der Universität Timbuktu enthielt angeblich nur fremde Texte. Die bronzenen Kunstwerke im Königreich Benin müssen andere geschaffen haben, wie die majestätische steinerne Stadt "Great Zimbabwe" unmöglich von Afrikanern erbaut worden sein konnte.

Auch den sich anschließenden Teil der afrikanischen Geschichte lässt man geflissentlich unter den Tisch fallen: dass dem Kontinent in mehr als zwei Jahrhunderten Sklaverei die Hälfte seiner Bevölkerung geraubt oder getötet und in den folgenden zwei Jahrhunderten des Kolonialismus das Gesellschaftsgefüge vernichtet wurde. Womöglich verbietet es die Scham, sich daran zu erinnern, denn an anderes erinnert man sich gut: dass selbst Milliarden Euro an Entwicklungsgeldern den Kontinent nicht auf die Beine gebracht hätten. Wie fehlgeleitet diese auch immer waren – vor allem in Zeiten des Kalten Krieges, der in Afrika stellvertretend auch heiß ausgefochten wurde. In Europa war nur noch vom "verlorenen" und "hoffnungslosen Kontinent" die Rede.

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Die in Nairobi entwickelte Bezahl-App M-Pesa ist inzwischen allgegenwärtig.
Foto: Reuters/Thomas Mukoya

Reputationsprobleme

Von Sarkozy offenbar unbemerkt kommt seit Beginn dieses Jahrtausends ein sehr anderes Bild Afrikas zum Vorschein. In immer mehr Staaten werden Wahlen abgehalten, der Kontinent tritt in die längste Wirtschaftswachstumsphase seiner unabhängigen Geschichte ein, in den urbanen Zentren wächst eine noch verletzliche Mittelschicht heran. Innerhalb weniger Jahre werden Millionen an Afrikanern übers Handy mit der Welt verbunden, in Kenias Hauptstadt Nairobi entwickeln Tüftler das revolutionäre, über den Mobilfunk abgewickelte Zahlungssystem M-Pesa (siehe Seite 16). Neue Apps verhelfen Kleinbauern zu besseren Preisen, führen den Chauffeuren von Motorradtaxen Kunden zu, geben Taubstummen eine Sprache und halten Elefanten von Dörfern fern. Statt vom chronischen Stillstand ist plötzlich von "Quantensprüngen" die Rede: Die Digitaltechnologie werde Afrika in die Zukunft katapultieren, heißt es. Das Marvel-Universum legt den Science-Fiction-"Black Panther" neu auf: Die euphorische Afrika-Hymne wird zum Kassenschlager.

Beratungsinstitute wie McKinsey, Ernest & Young oder Deloitte & Touche pushen den neuen Trend mit der These, der Kontinent habe vor allem ein Reputationsproblem. Die Fakten sprächen für Afrikas glorreiche Zukunft: Schon in zwanzig Jahren sei jeder vierte Mensch ein Afrikaner und der letzte noch unterentwickelte Markt der Welt eine riesige Goldgrube. Seine fruchtbaren Böden machten den Kontinent zur Kornkammer und seine unerschöpflichen Rohstoffvorkommen zur Schatzkammer der Welt.

Agenda 2063

In der Euphorie kommt auch unter Afrikas Politikern wieder Hoffnung auf. Die Afrikanische Union formuliert die "Agenda 2063", die ihren schrägen Namen der 1963 erfolgten Gründung des kontinentalen Staatenbundes verdankt. In dem Masterplan wird von einem "integrierten, wohlhabenden und friedlichen Afrika" geträumt, dessen Schicksal endlich von "seinen Bürgerinnen und Bürgern selbst bestimmt wird". Als erste PR-Leistung nimmt die Union 15 Flaggschiffprojekte in Angriff: darunter ein Netz für Hochgeschwindigkeitszüge, das sämtliche 55 Hauptstädte des Erdteils verbinden soll, ein afrikanischer Pass, der die irdischen Grenzen öffnen, und ein gemeinsames Weltraumprogramm, das den Himmel erschließen soll.

Zu den realistischeren Zielen des PR-Programms zählt die Etablierung einer "Afrikanischen kontinentalen Freihandelszone" (AfCFTA). Die der Europäischen Freihandelszone (EFTA) nachempfundenen Initiative soll die Zölle zwischen sämtlichen afrikanischen Staaten allmählich und weitgehend aufheben: ein Schritt, der dem kümmerlichen afrikanischen Binnenhandel auf die Beine helfen, die sterbende Industrialisierung zu neuem Leben erwecken und der schwindelerregenden Arbeitslosigkeit zu Leibe rücken soll. Alle afrikanischen Regierungen haben ihre Teilnahme an AfCFTA bereits zugesagt: Jetzt kommt es nur noch darauf an, den hehren Plan in die Tat umzusetzen.

Unter dem Bleigewicht der Eliten

Ob das Jahrhundertprojekt gelingt, wird vor allem von Afrikas Regierungen selbst abhängen. Sie konnten sich bislang aus den Zolleinnahmen bedienen, jetzt müssen sie sich andere Pfründen suchen. Ob sich der offene Wirtschaftsraum für ihr Land segensreich auswirken wird, steht noch längst nicht fest: Womöglich profitieren nur jene Länder, die ohnehin gut aufgestellt sind – wie Ghana, Kenia oder Marokko, Südafrika und die Elfenbeinküste. Chancen werden vor allem jenen Staaten eingeräumt, die nach den herrschenden Maßstäben als "gut geführt" gelten: also demokratisch gewählt sind, über starke wirtschaftliche und gesellschaftliche Institutionen verfügen und sich rechtsstaatlichen Prinzipien unterwerfen. Auf die meisten afrikanischen Staaten trifft das noch nicht zu.

Ob Nicolas Sarkozy seine vor 14 Jahren in der Universität von Dakar vorgetragene Rede heute noch genauso halten würde? Er würde wohl eher dem Sirenengesang der Beratungsinstitute folgen und dem Kontinent eine goldene Zukunft wie den asiatischen Tigerstaaten prophezeien – womit er kaum weniger falschläge. Afrikas Aufbruch ist mit dem Asiens nicht zu vergleichen: Dazu sind die Voraussetzungen zu unterschiedlich – allein die Zahl der Länder, ihre Geschichte und der sich verändernde Zustand der Welt. Doch zweifellos ist der Kontinent in Bewegung gekommen: Die wichtigsten Entscheidungen für Afrika werden heute nicht mehr (allein) in London, Paris oder Washington getroffen. Noch immer herrschen in einer Mehrheit der 55 Staaten autokratische und raffgierige Eliten: Doch unter deren Bleigewicht wächst vor allem in den Städten eine agile, vernetzte und weltoffene Bevölkerung heran. Sie will dieses Jahrhundert zum afrikanischen machen. (Johannes Dieterich, 26.5.2021)