Nach einem Traumstart als Spitzenkandidatin holpert es bei der Grünen Annalena Baerbock

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Natürlich bemühen sich Tino Chrupalla und Alice Weidel am Dienstag, Freude zu zeigen. Sie sind per Mitgliedervotum zu den AfD-Spitzenkandidaten für die deutsche Bundestagswahl gekürt worden. Doch so ganz gelingen will es nicht. Die beiden Promis – sie Fraktionschefin, er Parteichef – bekamen nur 71 Prozent. 27,4 Prozent entfielen auf die weithin unbekannte Konkurrenz: Joana Cotar und Joachim Wundrak, die zum eher gemäßigten Lager der Partei zählen.

Überhaupt haben nur 48 Prozent der 32.000 AfD-Mitglieder an der Abstimmung teilgenommen. "Wir müssen jetzt die Reihen schließen", mahnt Chrupalla eindringlich. Er sieht einen "schweren Wahlkampf, der vor uns liegt". Vermutlich ahnt er, dass der Kampf zwischen dem rechtsnationalen Lager und den Gemäßigteren nicht enden wird.

Die AfD war die letzte der bereits im Bundestag vertretenen Parteien, die ihr Spitzenpersonal bestimmte. Nun – vier Monate vor der Wahl am 26. September – ist die Riege komplett. Und das Rennen offen.

Eine Siegerin gibt es jedenfalls schon: Annalena Baerbock, die Parteivorsitzende und Spitzenkandidatin der Grünen. Der 40-jährigen Niedersächsin wurde bei der Nominierung am 19. April so viel Aufmerksamkeit zuteil wie sonst keinem grünen Spitzenvertreter in den vergangenen Jahren.

Erste grüne Kanzlerkandidatin

Die Grünen liefern aber auch ein Novum: Zum ersten Mal bieten sie bei dieser Bundestagswahl eine Kanzlerkandidatin auf. Erstmals haben sie auch reale Chancen auf den Einzug ins Kanzleramt, das Angela Merkel im Herbst nach 16 Jahren verlassen wird. "Ich trete an für Erneuerung, für den Status quo stehen andere", erklärte Baerbock bei ihrer Nominierung selbstbewusst – auch um ein Manko an Erfahrung zu überspielen. Sie ist zwar im Bundestag vertreten, hatte aber noch nie ein Regierungsamt inne.

Es setzte ein Hype ein, der an die anfängliche Begeisterung für den SPD-Spitzenkandidaten Martin Schulz im Wahlkampf 2017 erinnerte. Nicht nur ein Umfrageinstitut vermeldete: Die Grünen liegen nun vor der Union, bei der sich CDU-Chef Armin Laschet und CSU-Chef Markus Söder einen beispiellosen Machtkampf um die Kanzlerkandidatur geliefert hatten.

Doch mittlerweile ist der grüne Glanz etwas verblasst, der Höhenflug der Spitzenkandidatin gebremst, und Baerbock hat viel Ärger. Ihren Wahlkampf belastet das Parteiausschlussverfahren gegen den Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer. Dieser hatte sich in einem Tweet rassistisch über den Fußballspieler Dennis Aogo geäußert, wollte dies aber als Satire verstanden haben. Baerbock trieb dennoch den Rausschmiss Palmers voran, der wehrt sich gegen "Ausgrenzung und Denunziation".

Debatte über Studium

Missverständlich fanden viele auch Baerbocks Lebenslauf im Internet. Wie könne es sein, dass die Grüne in England einen Master in Völkerrecht gemacht habe, zuvor in Hamburg aber keinen Bachelor, auf dem der Master aufbaut? Sie erinnerten sich auch an eine Veröffentlichung der grünennahen Heinrich-Böll-Stiftung 2011. Darin war von einem Bachelor die Rede gewesen.

Die grüne Pressestelle sah sich zu einer Klarstellung und der Veröffentlichung von Baerbocks Zeugnissen gezwungen, um zu zeigen, dass alles korrekt sei. Baerbock habe tatsächlich keinen Bachelor, sie habe die Voraussetzungen für das Studium in England aber mit dem Hamburger Vordiplom erfüllt.

Doch es kam noch größeres Ungemach, als bekannt wurde, dass Baerbock vergessen hatte, der Bundestagsverwaltung Sonderzahlungen in Höhe von 25.000 Euro aus den Jahren 2018, 2019 und 2020 zu melden. Diese waren ihr von den Grünen überwiesen worden.

"Blödes Versäumnis"

Nicht die Summe an sich wurde beanstandet, sondern die vergessene Meldung. Und dass Baerbock die Nachmeldung erst veröffentlichte, als die Bild-Zeitung nachfragte. "Das war ein blödes Versäumnis. Ich habe mich darüber selbst wahrscheinlich am meisten geärgert. Als es mir bewusst wurde, habe ich es sofort nachgemeldet", sagte Baerbock danach.

Doch es blieb ein schaler Nachgeschmack. Die Grünen schreiben sich Transparenz auf die Fahnen und hatten im Frühjahr, als diverse Maskenaffären die Union erschütterten, die hohen Provisionszahlungen an Unionspolitiker scharf kritisiert.

Dass Baerbock dann auch noch bei einer Rede im Bundestag die soziale Marktwirtschaft der SPD zuschrieb und nicht korrekterweise der CDU und ihrem ersten Wirtschaftsminister und späteren Bundeskanzler Ludwig Erhard, trug ebenso wenig zur Hebung der Stimmung bei wie die Debatte über Kurzstreckenflüge. Diesbezüglich hatte Baerbock erklärt, sie wolle diese so verteuern, dass es auf eine komplette Abschaffung hinauslaufe. Es folgte der Vorwurf der "Verbotspartei" von allen Seiten, selbst Baerbocks grüner Co-Chef Robert Habeck ätzte, die Abschaffung von Kurzstreckenflügen sei eher ein Symbol, der Gewinn für das Klima dabei "nicht so besonders hoch".

Der "Schulz-Zug"

Mittlerweile verweisen viele in Berlin wieder auf den "Schulz-Zug". Mit einer Eisenbahn, die volle Fahrt aufs Kanzleramt nimmt, war der anfängliche Hype um den SPD-Kanzlerkandidaten 2017 verglichen worden. Doch dann warf es den Zug aus den Schienen, unter Schulz erzielte die SPD ihr bis dato schlechtestes Ergebnis von 20,5 Prozent, Merkel blieb Kanzlerin.

Vier Jahre später geht es den Sozialdemokraten auch nicht besonders gut. Schon im Sommer 2020 haben sie Finanzminister Olaf Scholz als Spitzenkandidaten präsentiert, auch ein Wahlprogramm mit der Forderung nach einer Vermögenssteuer und einem höheren Mindestlohn liegt seit langem vor.

Union wieder vorne

Doch in Umfragen kommt die SPD nicht vom Fleck, sie verharrt bei maximal 16 Prozent, auch wenn Scholz den Beginn der Aufholjagd ausgerufen hat.

An erster Stelle sehen manche Institute in Umfragen nun wieder die Union – wenngleich auf schwachem Niveau. 32,9 Prozent hatte sie bei der Bundestagswahl 2017 erreicht, nun bewegt sie sich zwischen 24 und 26 Prozent.

CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet konnte der Union noch nicht in die Höhe verhelfen.
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Auch Laschet als Spitzenkandidat zündet (noch) nicht richtig. Er muss erst einmal ein Wahlprogramm vorlegen und hat auch noch Druck aus Bayern. Der bei der Kanzlerkandidatur unterlegene CSU-Chef Söder legte die Latte für Laschet gerade hoch, indem er erklärte, die Union dürfe nicht als Juniorpartnerin in eine grün-schwarze Bundesregierung gehen: "Wenn die Union nicht mehr den Kanzler stellt, dann ist sie faktisch abgewählt." In dem Fall müsse sie in Opposition.

Die meisten Deutschen können damit offenbar gut leben. Laut einer Umfrage des Allensbach-Instituts wünschen sich 61,5 Prozent einen Wechsel in der Bundesregierung. Das ist der höchste Wert seit 1990. (Birgit Baumann aus Berlin, 26.5.2021)