Das Blitzlicht ist seine Sache nicht. "Passt das so?", fragt Markus Gstöttner in Richtung Fotografin und Pressesprecher und verschränkt seine Arme. Der 34-Jährige steht im Arkadenhof des Wiener Rathauses, lächelt etwas unsicher. An diesen Aspekt seines Jobs habe er sich noch nicht gewöhnt, gibt Gstöttner zu. Später erinnert ihn der Sprecher daran, dass er sagen muss, wenn etwas "off the record" ist. In den sozialen Netzwerken findet man von Gstöttner quasi nichts. Das klingt nicht nach einem von der türkisen ÖVP, die Inszenierung zu ihren Stärken zählt.

Zuerst Baggypants und Hip-Hop, nun Anzug und Kanzleramt. Markus Gstöttner hat für die türkise ÖVP einen interessanten Lebenslauf vorzuweisen.
Foto: Regine Hendrich

Seit Oktober ist der Wiener Abgeordneter im Gemeinderat für die ÖVP. Das ist selbst für Politikinsider unauffällig vonstattengegangen. Dabei gilt Gstöttner im Landesparlament als eine der interessantesten Personalien. Nach Jahren des Wartens war er zunächst Berater des Kanzlers und wurde dann dessen stellvertretender Kabinettschef.

Allein deshalb scheint es nicht völlig aus der Luft gegriffen, dass Gstöttner Gernot Blümel als Landesparteichef beerben könnte, sollte sich der Verdacht in der Causa Casinos gegen den Finanzminister erhärten.

Baggypants und große Fragen

Für Politik interessiert sich Gstöttner "seit Tag eins", wie er selbst sagt. Das heißt, seit der Pubertät. Gstöttner war im renommierten Schottenstift-Gymnasium, einst noch eine reine Bubenschule. Ein schlechter Schüler sei er keiner gewesen, aber die Aufmerksamkeit lag schon woanders als beim Unterricht: Beim Tennis und bei der Musik. Gstöttner fällt in der elitären Schule auf – er trägt Baggypants, hört Hip-Hop. In der Schulzeitung "Schottilion" verfasst er im Maturajahr eine Rezension über ein neues Album von Johnny Cash.

Schon mit zwölf, 13 Jahren setzt sich Gstöttner mit großen Fragen auseinander: Was ist der Sinn des Lebens? Warum sind wir da? Was heißt es, glücklich zu sein? Er liest viel – von asiatischer Philosophie, buddhistischem Denkern bis hin zu den alten Griechen. Was er mitnimmt: Der Mensch ist Teil eines großen Ganzen. Und: Was man in der vergänglichen Welt als Glück wahrnehmen kann, hat viel damit zu tun, wie man sich verhält – sich selbst und seinen Mitmenschen gegenüber.

Die Lektüre bringt Gstöttner mit etwa 18 nicht nur zu dem Punkt, an dem er sich als christlich-sozial definiert, sie bildet seinen Zugang als Politiker: Für Gstöttner ist Politik der Versuch, ein Regelwerk zu schaffen, mit dem so viele Menschen wie möglich so glücklich wie möglich sein können. Jahrelang beschäftigt ihn die Frage, wieso das in manchen Ländern besser klappt als in anderen.

Ein spröder Verhandler

Anfang der 2000er klopfte Gstöttner schon einmal bei der Jungen Volkspartei in Wien an, wie damals auch Sebastian Kurz. Bis sich ihre Wege kreuzen, dauert es aber noch mehr als zehn Jahre. Und bis Gstöttner bei der ÖVP landet, noch länger: 2017 wird er in den inneren Zirkel von Kurz aufgenommen. Der wurde inzwischen ÖVP-Chef und wird kurz darauf Kanzler. Gstöttner nimmt im Wahlkampf die Arbeit auf und wirkt auch bei den Koalitionsverhandlungen mit den Freiheitlichen mit. Im Kabinett berät Gstöttner Kurz in Wirtschaftsfragen. In der Regierung mit den Grünen wird er dann zum Stellvertreter von Kabinettschef Bernhard Bonelli befördert. Mit dem Juniorpartner verhandelt er unter anderem die ökosoziale Steuerreform mit. Gstöttner wird als spröder, selten humoriger Verhandler beschrieben, der aber inhaltlich beschlagen sei.

Erste Kontakte ins Umfeld des aufstrebenden Jungpolitikers Kurz gab es bereits 2013. Damals lernen einander Gstöttner und Bonelli kennen, eine Freundschaft entsteht. Doch Kurz ist bekannt dafür, nur wenige Leute in seinem politischen Umkreis zu dulden. Gstöttner ist der vorerst Letzte, der diesen Aufstieg geschafft hat. Mit ein Grund dürfte sein Charakter sein: Er wirkt ehrgeizig, aber bescheiden. Einer, der sich in den Dienst der Sache stellt und dem seine Lernkurve immens wichtig ist.

Wien – London – die Welt

Das merkt man auch daran, dass Gstöttner bereit dazu ist, für den Wechsel zur ÖVP und nach Wien einen absoluten Top-Job in London zu kündigen. Warum das alles? Ihm habe die Art der Politik, für die die ÖVP unter Kurz stehe, gefallen, sagt Gstöttner. Umgekehrt kann er, der nur ein paar Wochen vor Kurz im August 1986 geboren wurde, einen beeindruckenden Lebenslauf vorweisen: Nach der Matura lässt Gstöttner Wien hinter sich. Er studiert Wirtschaft an der renommierten London School of Economics. Hier beginnt auch die Zeit, in der Gstöttner die Welt sieht: Er macht ein Praktikum bei einer Bank in Bangladesch. Nach dem Masterabschluss geht er für ein Jahr nach Indien und arbeitet im entwicklungspolitischen Bereich. Da hat Gstöttner längst eine Zusage der weltweit operierenden Beratungsfirma McKinsey in der Tasche. Das Unternehmen wartet auf ihn.

Nach zwei Jahren bei McKinsey in London stirbt Gstöttners Mutter. Er nimmt sich für sechs Monate eine Auszeit, wie er es nennt, geht nach Pakistan und schaut sich für ein Projekt das dortige Gesundheitssystem an.

Danach geht es für ihn bei McKinsey weiter bergauf. Als ihm eine Freundin, die damals im Libanon lebt, von der Krise durch den Krieg vor Ort erzählt, rauscht er ins Büro eines Partners, wie dieser später erzählt, und sagt, er wolle syrischen Flüchtlingen helfen. Mit einem Pro-bono-Projekt versucht er mit NGOs, Bildung für jene Kinder zu ermöglichen, die durch den Krieg länger nicht mehr oder noch nie in einer Schule waren.

Kurz vor der Partnerschaft

Zurück in London steht Gstöttner knapp vor der Partnerschaft bei McKinsey, weil das lang ersehnte Angebot aus Wien kommt, kündigt er aber. "Wenn man bis zwei Uhr in der Früh eine Powerpoint-Präsentation macht, muss man sich manchmal daran erinnern, warum man das macht. Wenn wir so lange im Kanzleramt sitzen und über Corona sprechen, dann weiß ich, warum ich das mache", sagt er heute über die Gründe.

Aber auch im Kanzleramt ist Gstöttner noch nicht am Ziel. Er kommt vielmehr auf den Geschmack, Politiker werden zu wollen, und tritt bei der Wien-Wahl an. Gstöttner habe sich im Wahlkampf mit allen Referenten hingesetzt und sei ihre Themen durchgegangen. Immer erreichbar, akribisch, freundlich – so beschreibt ihn einer, der nun mit ihm im Gemeinderat sitzt. Und: Der Tag habe bei ihm offenbar mehr als 24 Stunden.

Türkise Kommunikation bereits verinnerlicht

Der Gemeinderat sei der ideale Ort, um zu beginnen, sagt Gstöttner – ein Stichwort für all jene, die glauben, dass Gstöttner noch für höhere Weihen vorbestimmt ist. Wäre jemand mit seinem Lebenslauf nicht eher Kandidat für einen Ministerposten? Gstöttner reagiert auf diese Frage gelassen. Es wäre verwegen, solche Luftschlösser zu bauen, sagt er.

Erhärten sich die Vorwürfe gegen seinen Chef in Wien, Gernot Blümel, müsste es vielleicht gar nicht bei den Luftschlössern bleiben. Die derzeitigen Ermittlungen gegen ÖVP-Politiker kommentiert Gstöttner übrigens so: "Ich finde es schade, dass in der politischen Auseinandersetzung zuletzt immer mehr mit Anzeigen gearbeitet wird anstatt mit politischen Argumenten." An das Blitzlicht mag Gstöttner noch nicht gewöhnt sein, die türkise Kommunikationslinie hat er dafür aber bereits verinnerlicht. (Lara Hagen, Jan Michael Marchart, 27.5.2021)