Mastermind Kevin Shields (hinten Mitte) und die jungen My Bloody Valentine 1988. Damals konnte man noch die Flöhe husten hören.

Foto: Paul Rider

Was ist Zeit – und warum beschäftigt uns diese Frage überhaupt? Wenn eine Band geschlagene 22 Jahre braucht, um auf Album Nummer zwei von 1991 im Jahr 2013 Album Nummer drei folgen zu lassen, kann man davon ausgehen, dass es da jemand im Studio bezüglich Besessenheit ganz genau wissen will. Acht Jahre später arbeitet Kevin Shields, das Mastermind hinter der britisch-irischen Band My Bloody Valentine eigenen Angaben zufolge nun schon wieder an neuem Songmaterial. Eher wenig positiv gestimmte Anhänger erwarten die Ankunft seiner neuen Musik aber erst um das Jahr 2035.

Nebenher hat Shields als verrückter Professor des Noise-Pop noch ein Alzerl an seinen alten Sachen herumgeschraubt. Das schmale Gesamtwerk der Anfang der 1980er-Jahre gegründeten Band, also eine EP- und Singlessammlung sowie die drei Alben Isn’t Anything (1988), Loveless (1991) und MBV (2013) sind nun neu überarbeitet beim britischen Label Domino erschienen.

my bloody valentine

Die vom Klirr- und Kreischfaktor her intensivierte Klangqualität ist nichts weniger als berückend – und auch ein wenig bedrückend. Bei entsprechender Lautstärke wird es einem beim Kunstgenuss nach dem erzielten Durchstich des Trommelfells Hammer, Amboss und Steigbügel ordentlich herarbeiten.

Das ursprünglich aus Irland stammende und von London aus operierende Quartett absolvierte zwar ab Ende der Nullerjahre zwischendurch wieder einige Tourneen. Über die Jahrzehnte waren aber doch einige Probleme zu verzeichnen. Schon die Veröffentlichung von Loveless, das heute längst als eines der einflussreichsten Alben der Musikgeschichte im Bereich Hörsturz und melancholische Grundgestimmtheit gilt, war kommerziell und menschlich gesehen eine einzige Katastrophe.

Mastermind Kevin Shields verbrauchte damals mehrere Produzenten und zwei Jahre in 19 Tonstudios. Die Plattenfirma Creation Records stand (wohl auch aufgrund des übermäßigen Drogenkonsums diverser Beteiligter) finanziell am Rand des Ruins. Die absurden Produktionskosten von 250.000 britischen Pfund konnten nie eingespielt werden. Ein noch viel höherer Vorschuss für ein eigenes Studio von Shields versandete über die Jahrzehnte im Nirgendwo.

UPROXX Indie Mixtape

Die von Gitarrist Kevin Shields im Studio mehr oder weniger im Alleingang betriebene Band My Bloody Valentine war ohnehin nie dafür angelegt, in die Charts zu kommen. Weit hinten angesiedelte Schlagzeug-Loops und ein kaum hörbarer Bass von Colm Ó Cíosóig und Debbie Googe wurden von einer mehrere Meter dicken Wand aus zahllosen, immer noch neu verstärkten, verfugten, gemörtelten und gepölzten Gitarrenwänden abgeschirmt.

Auch der Gesang der zweiten Gitarristin Bilinda Butcher wurde höchstens als gleichwertiger Soundbeitrag zum übermächtigen Dröhnen und Heulen und der tief im Hallraum mit Vibratoeffekten eiernden Verzerrergitarren eingesetzt. Merke, für die Gitarrensounds von My Bloody Valentine wurde das Verb "eiern" eigens erfunden!

In all diesem herrlichen Chaos konnte man mitunter zuckersüße Sixties-Melodien aus der Schule der Beach Boys oder von The Velvet Underground entdecken. Darunter schunkelten, wenn überhaupt hörbar, ein wenig angeheiterte Grooves aus der damaligen nordenglischen "Madchester"-Rave-Szene um die Happy Mondays. Die selbstreferenziellen, radikalen Soundschlieren verweigerten sich allerdings dem gängigen Strophe-Refrain-Schema. Dieses edle Streben nach künstlerischem Alleinstellungsmerkmal im Pop verweigert der Kunde allerdings traditionell an der Kassa im Schallplattengeschäft.

Die Mauern von Jericho

Kevin Shields aber, der seine Laute längst auch im realen Leben so laut aufgedreht schlagen muss, dass allen Umstehenden die Hosen schlackern, um Feinheiten des klanglichen Strebens zumindest körperlich erahnen zu können, ist damit aktuell zufrieden. Angesichts einer in den letzten Jahren doch feststellbaren Nachlässigkeit nachfolgender Generationen von Gitarrenbands in Sachen Mauern von Jericho und dem Versuch, diese zum Einsturz zu bringen, klingt diese damals parallel zum Hochkommen von Grunge und Nirvana bald wieder untergegangene Musik frisch wie nie.

Angesichts heutiger plombierter Tonanlagen in Konzertsälen wissen viele junge Hörer heutzutage nicht, dass diese strenge Musik einmal dazu gedacht war, das Publikum auch physisch zu erschüttern. Damals vor 30 Jahren wurde das Klingeln in den Ohren immer mitgedacht. Falls jemand Einwände vorbringen möchte: Entschuldigung, wir können euch nicht hören. (Christian Schachinger, 27.5.2021)