Für seine Befragung im britischen Unterhaus wählte Dominic Cummings ein ungewohnt formelles Outfit: Hemd statt der sonst bei ihm üblichen T-Shirts. Inhaltlich blieb die große Überraschung aber aus.

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Dominic Cummings, der frühere Chefberater des britischen Premierministers Boris Johnson, sagte am Mittwoch vor einem Untersuchungsausschuss des Unterhauses aus. Cummings war einst die graue Eminenz der Downing Street gewesen, einer der einflussreichsten Strippenzieher in der Regierungszentrale. Nachdem er einen erbitterten Machtkampf mit der Verlobten des Premierministers, Carrie Symonds, verloren hatte, reichte er Ende letzten Jahres seinen Rücktritt ein. Seitdem stehen Cummings und Johnson über Kreuz, auch wenn sie früher Seite an Seite für den Brexit gestritten hatten.

Das hat Folgen: Der Ex-Berater zettelte mit gezielten Indiskretionen und Enthüllungen, die den Premierminister in schlechtem Licht zeichneten, einen Privatkrieg mit seinem früheren Boss an. Der Rachefeldzug kulminierte am Mittwoch mit Cummings’ Auftritt vor dem vereinten Gesundheits- und Wissenschaftsausschuss des Unterhauses, der das Corona-Management der Regierung unter die Lupe nehmen soll.

Leise Selbstkritik

Dort wiederholte der 49-Jährige seine Anschuldigungen, die er schon in den letzten Tagen in einem Mammut-Thread von 65 Twitter-Nachrichten vorgebracht hatte. "Als es die Öffentlichkeit am meisten brauchte", erklärte er vor dem Ausschuss, "hat die Regierung versagt." Dabei nahm er sich selbst nicht davon aus, Fehler gemacht zu haben. Die Litanei des Versagens ist lang. Die Regierung sei auf die Pandemie schlecht vorbereitet gewesen, so Cummings, man habe keine beziehungsweise die falsche Strategie gehabt. Es fehlte an Ausrüstung, Schutzkleidung und Testkapazitäten.

Der Premierminister habe Covid-19 zuerst heruntergespielt und als ein Gruselmärchen bezeichnet. Im Februar machte Johnson einen zweiwöchigen Urlaub und versäumte danach fünf Sitzungen des Krisenstabs "Cobra". Er soll sogar den bizarren Vorschlag gemacht haben, sich vom medizinischen Chefberater Chris Whitty vor laufenden Kameras mit dem Coronavirus infizieren zu lassen. Ein besonders massiver Vorwurf von Cummings lautete: Die Regierung habe bis zur Verhängung des ersten Lockdowns Ende März letzten Jahres eine Strategie verfolgt, die davon ausgegangen sei, dass "Herdenimmunität ein unvermeidbarer Fakt" sei.

Konsequente Virusunterdrückung

Erst als den Entscheidungsträgern klar wurde, dass man mit diesem Kurs mit mehr als einer halben Million Covid-Toten rechnen müsste, ließ man von der Strategie der eingeschränkten Maßnahmen ab und schaltete auf konsequente Unterdrückung des Virus um. Er selbst habe schon am 14. März eindringlich gewarnt, aber Johnson habe erst am 23. März den Lockdown verkündet.

Die Verzögerung des Lockdowns, so deutete Cummings an, habe dazu geführt, dass tausende Menschen unnötig ihr Leben verloren hätten.

Schlimmer noch: Im Herbst habe sich dieses Versagen wiederholt. Im September hatte das wissenschaftliche Beratergremium Sage einen erneuten Lockdown gefordert, doch Johnson habe sich dagegen gestemmt, unter anderem mit der Begründung, wie eine Reihe von Medien kolportierten, dass Covid ja doch "nur die 80-Jährigen killen" würde.

Als der Premierminister dann schließlich Ende Oktober überstimmt wurde und einen zweiten Lockdown ansetzen musste, soll es zu einem Wutausbruch gekommen sein. Medienberichten zufolge soll Johnson gebrüllt haben: "Keine verf***ten Lockdowns mehr! Lasst die Leichen sich zu Tausenden aufstapeln." Für diese Wortwahl legte Cummings am Mittwoch jedoch keine Beweise vor, wie etwa eine Audioaufnahme des Wutausbruchs.

Keine Beweise

Das hätte seine ultimative Rache sein können, denn Johnson hatte zuvor im Parlament explizit verneint, diese Aussage gemacht zu haben. Ohne Beweise fällt es Johnson jetzt leicht, die Vorwürfe wegzuwischen. Er wurde bei der mittwöchlichen Fragestunde im Parlament vom Oppositionsführer Keir Starmer damit konfrontiert und erwiderte: "In einen Lockdown zu gehen ist eine traumatische Sache. Wir haben in jeder Phase den Verlust von Leben zu minimieren gesucht."

Für seine Befragung im britischen Unterhaus wählte Dominic Cummings ein ungewohnt formelles Outfit: Hemd statt der sonst bei ihm üblichen T-Shirts. Inhaltlich blieb die große Überraschung aber aus. (Jochen Wittmann aus London, 26.5.2021)