Bild nicht mehr verfügbar.

Ein Ensemble einer New Yorker Broadwaybühne feiert – wie viele andere Künstler – sein Comeback.

Foto: AP / Mark Lennihan

"Burn, baby, burn!", singen drei betagte Herren vor einem Steak-Restaurant in Manhattan unweit des Chrysler Building. Der Disco-Hit stammt aus dem Jahr 1976, als die Trammps ihre beste Zeit hatten. Nach der musikalischen Einstimmung zieht Curtis Sliwa ein Feuerzeug aus der Hosentasche und hält es an eine blassblaue Chirurgenmaske. Sieben solcher Masken baumeln an einem Besenstiel, den zwei Helfer in der Waagerechten halten. Sliwa will sie anzünden, eine nach der anderen. Er will feiern, was er die Masken-Sonnenwende nennt. Oder auch den Tag der Befreiung.

Gemäß US-Seuchenschutzbehörde können vollständig Geimpfte auf den Mund-Nasen-Schutz verzichten, drinnen wie draußen – es sei denn, eine Behörde oder ein Privatunternehmen besteht nach wie darauf.

Comeback-Parolen

Sliwa, ein schillerndes Original aus der konservativen Szene New Yorks, nimmt die Lockerung zum Anlass, um sich fernsehgerecht in Szene zu setzen. Vor 42 Jahren hat er die "Guardian Angels" gegründet, eine Freiwilligenpatrouille, die der Polizei im Kampf gegen die Kriminalität beistehen wollte, bald aber selbst ins Gerede kam, weil sie bisweilen allzu martialisch auftrat.

Als Moderator einer Radiosendung blieb Sliwa im Gespräch, nun bewirbt er sich für das Amt des Bürgermeisters. "Wir müssen das Nachtleben zurück nach New York holen", ruft er mit Donnerstimme in ein Mikrofon. "Das war einmal die Stadt, die nie schlief. Da müssen wir wieder hin, erst dann kann man sagen, New York ist über den Berg!"

Feuerfeste Masken

Dann gibt es statt des erhofften Freudenfeuers eine kleine Blamage, denn die Masken erweisen sich als erstaunlich feuerfest. Minutenlang wollen sie gar nicht brennen, sosehr sich Sliwa, die Miene immer verkniffener, auch bemüht. Erst als ein Assistent eine Flasche Grillanzünder auftreibt, lodern die Flammen.

Vorige Woche hat Bill de Blasio, der aktuelle Bürgermeister, die Rückkehr zur Normalität verkündet, wenn auch weniger theatralisch: Gaststätten, Hotels und Museen dürfen wieder wie vor der Pandemie Besucher empfangen – mit dem einzigen Unterschied, dass sie auf Abstandsregeln zu achten haben. Die U-Bahn fährt nach einjähriger nächtlicher Pause wieder rund um die Uhr. An den Schulen sollen nach den Sommerferien ausnahmslos alle in den Klassenzimmern sitzen.

Das legendäre Theaterviertel am Broadway hat sein Comeback avisiert, nachdem seine 41 Bühnen seit März 2020 eine Zwangspause einlegen mussten. Den Anfang macht in gut zwei Monaten das preisgekrönte Musical "Hadestown".

Als de Blasio dieser Tage bestens gelaunt verkündete, 60 Prozent der erwachsenen New Yorker seien mindestens einmal geimpft, lockte er mit kostenlosen Broadway-Tickets, die eine Lotterie Woche für Woche verlost. Bereits Mitte Juni, gab er bekannt, werde Satiriker Stephen Colbert erstmals wieder vor vollen Rängen auftreten. "Es gibt nichts, was New York stoppen kann", triumphierte der Mayor.

"Es ist noch lange nicht vorbei"

Byong Min geht das alles zu schnell. "Es ist noch lange nicht vorbei", warnt er, während er in seiner chemischen Reinigung in der Upper West Side die Kleidungsstücke seiner Kunden sortiert. "Der größte Teil der Welt ist noch nicht geimpft, wie kann man da schon so tun, als wäre alles normal?"

Der 64-Jährige, einst aus Südkorea eingewandert, hat Corona nur knapp überlebt. 96 Tage lag er im Krankenhaus, davon fünf Wochen auf der Intensivstation. Noch lange danach war die Nierenfunktion eingeschränkt. Seit Jänner steht er wieder im kleinen Geschäft, "vier Stunden am Tag, danach bin ich völlig erschöpft". Der Umsatz liegt um drei Viertel unter dem, was vor der Krise in die Kasse kam. Weil hunderttausende New Yorker weiter im Homeoffice arbeiten, können sie auf Büro-Chic vorläufig verzichten. Schlechte Zeiten für eine Reinigung.

Als Byong Min am 20. März 2020 ins Presbyterian Hospital eingeliefert wurde, hatte er bereits das Bewusstsein verloren. Damals war New York eines der Epizentren der Seuche. Das Virus suchte die Metropole besonders vehement heim. Weil die Bestattungsunternehmen ans Limit kamen, mussten die Leichen in Kühllastern auf den Parkplätzen der Krankenhäuser gelagert werden. Mehr als 33.000 Menschen verloren ihr Leben. Allein schon die bittere Vorgeschichte erklärt, warum viele gar nicht daran denken, Sliwas Beispiel zu folgen und sich von ihren Masken zu trennen.

Wohnungen statt Büros

Ob New York sein Comeback feiert? "Ja, klar", antwortet Andrew Yang, ein ehemaliger Hightech-Unternehmer mit taiwanesischen Wurzeln, der in Umfragen die Liste der demokratischen Anwärter auf den Chefposten im Rathaus anführt. "Wer uns abschreibt, liegt eigentlich immer daneben." Bei einem Kandidatenforum in Harlem stellt sich Yang den Fragen Al Sharptons, des schwarzen Bürgerrechtspredigers, der sich zugleich als soziales Gewissen der Stadt versteht.

900.000 Jobs hat New York im Zuge der Pandemie verloren. Sharpton will wissen, was das für die Zukunft bedeutet. Nur eine Delle, nichts von Dauer, glaubt Yang, bevor er vom Wandel spricht, dem sich niemand entziehen könne. "Wenn ich Bürgermeister bin, sorge ich dafür, dass aus überflüssigen Büros schnellstmöglich Wohnungen werden."

Achterbahn der Gefühle

"Das ist New York, hier macht jeder Musik", scherzt Juana Luna aus Buenos Aires, nachdem ihr erstes Lied verklungen ist. Die Sirene einer Feuerwehr, der Song eines Rappers aus einem auf volle Lautstärke gedrehten Autoradio, die Erkennungsmelodie eines mobilen Eisverkäufers – das alles bildet die Geräuschkulisse für das Freiluftkonzert in der Bronx. Begleitet wird Luna von einem Streichquartett der New Yorker Philharmonie. Motto: Die Philharmoniker gehen zu den Leuten, solange die Leute nicht in die Philharmonie kommen können.

Ihr nächstes Lied handle von der Achterbahn der Gefühle, kündigt Luna an. Damit, glaube sie, lasse sich die Seelenlage New Yorks im Augenblick ziemlich treffend beschreiben. (Frank Herrmann aus New York, 27.5.2021)