Sein Bizeps ist ebenso voluminös wie seine schwarzen Kopf- und Brusthaare. Sein Vollbart zeigt keinerlei Lücken, und seine breiten Schultern füllen den Rahmen des Webcam-Fensters aus. Der 27 Jahre alte Student Vishal aus Vorarlberg erfüllt optisch alle Kriterien, um sich bei Schwiegermüttern oder auf der Baustelle als gestandenes Mannsbild zu qualifizieren.

Doch das war nicht immer so: Der Schularzt diagnostizierte ihm im Kindesalter Übergewicht. "Das gute indische Essen meiner Mutter war schuld", erzählt er. Auf dem Schulhof bekam Vishal das zu spüren. "Beim Fangenspielen haben sie mich immer zum Jäger auserkoren, weil ich so stark schwitzte und niemand mich anfassen wollte." Ein Teamkollege im Fußballverein gab seinen Brusthälften sogar Kosenamen.

Als Kind war Vishal stark übergewichtig, wurde dafür gehänselt. Im Fitnessstudio versuchte er, seinen Körper zwanghaft zu modellieren – bis zum Zusammenbruch.
Foto: Matvey Gritsyuk

Heute verzeiht der erwachsene Vishal seinen ehemaligen Peinigern: "Sie wollten ja auch nur cool sein", sagt er und lacht. Innere Narben trägt er dennoch mit sich: Es ist ihm auch heute unangenehm, sich beim Baden an der Isar das Shirt auszuziehen.

Mach doch einmal Sport!

Dass auch Männer und Jungen unter Body-Shaming leiden, kann der Innsbrucker Männerberater Florian Zeiner durch seine tägliche Arbeit bezeugen. "Burschen entwickeln genauso eine gestörte Beziehung zu ihrem Körper und leiden Jahrzehnte später noch unter den Folgen." Der Leidensdruck, der durch vermeintliche Körpermakel entsteht, werde gerade bei Jungs oft ab- und nicht angesprochen. Sprüche wie "mach doch einmal Sport" oder "iss einfach weniger" würden Heranwachsende zusätzlich unter Druck setzen.

"Reiß dich einmal zusammen" wurde auch für Vishal zum obersten Gebot, als er in die Pubertät kam: Er widmete sich dem Muskeltraining, ein Hobby, das schnell zum Zwang wurde. Statt für Prüfungen zu lernen, ging er nur noch ins Studio, um zu pumpen, die Muskeln zu definieren – seine Noten verschlechterten sich. Beim Kreuzheben musste er sich manchmal übergeben, eines Abends fiel er sogar in Ohnmacht. "Es war pure Selbstkasteiung", erzählt er, "ich habe mich ständig nur mit anderen Männern verglichen, die attraktiver und stärker sind als ich." Heute kann er nicht mehr Kreuzheben, weil sein Rücken aus dieser Zeit Schäden davongetragen hat.

Ins Fitnessstudio geht Vishal nach wie vor, doch er achtet auf seine Grenzen: "Früher war der Selbsthass mein einziger Motivator, heute möchte ich meinem Körper einfach etwas Gutes tun." Es gibt jedoch Phasen, in denen er wieder in alte Muster zurückfällt und nur noch zu Gemüse und Eiweißshakes greift. Der ewige Teufel des männlichen Schönheitsideals sitzt ihm auch bei seiner Leidenschaft, dem Musizieren, im Nacken: "Ich glaube ständig, dass meine Karriere als Sänger scheitert, weil ich nicht gut genug aussehe." Um den Teufel von der Schulter zu schnipsen, nimmt Vishal mittlerweile Psychotherapie in Anspruch.

Du bist gut, wie du bist

Neben der Therapie- und Beratungsarbeit sieht Männerberater Florian Zeiner auch Eltern, Lehrkräfte und Vereine unter Zugzwang, um gegen Body-Shaming und zwanghafte Selbstoptimierung unter Männern vorzugehen. "Wir müssen auch Burschen das Gefühl geben, dass sie gut sind, wie sie sind. Wenn wir sie in ihrer Einzigartigkeit stärken, haben es auch Mobber schwer, ihnen etwas anderes einzureden." Auch Vishal hätte seinem jüngeren Ich gewünscht, dass der Biolehrer die Vielfalt und nicht die Norm vom Männerkörper auf die Tafel geschrieben hätte. Er appelliert auch an seine Leidensgenossen: "Versteck dich nicht. Sag den Menschen, wenn du dich nicht wohlfühlst, stelle Mobber zur Rede." Natürlich weiß auch er, dass das für viele ein facher gesagt als getan ist.

Schlaksig sind doch nur Nerds

Laut Zeiner zeige bereits das offene Gespräch mit männlichen Vorbildern Wirkung, da man dadurch mit seinen Problemen nicht mehr allein sei. Doch das reicht Christoph May, dem Gründer des Deutschen Instituts für Kritische Männerforschung, nicht. "Es ist nicht damit getan, dass Männer sich plötzlich für ihre Gefühle interessieren und darüber reden. Sie müssen aus ihren exklusiven Männerbünden ausbrechen." Gerade der Boys-only-Club reproduziere das Schönheitsideal vom emotionalen und anatomischen Panzermann.

Christoph May vom Deutschen Institut für Kritische Männerforschung wünscht sich ein neues mediales Männerbild: "Noch dominieren die muskelbepackten Superhelden."
Foto: Christoph May

May untersucht auch, wie Männerrollen durch Leitmedien geprägt werden. "Im Mainstreamfilm dominiert nach wie vor das Bild des muskulösen Superhelden." Zwar gebe es Filme und Serien, die toxische Männlichkeit bereits kritisch verhandeln. Diese enden aber meist tragisch, anstatt die Probleme mit positiven Vorbildern aufzulösen.

Die wenigen Männer, die in Filmen und Serien von der Norm abweichen, treten laut May nur als Klischees und Extreme in Erscheinung, so etwa der schlaksige Nerd in der Sitcom Big Bang Theory oder der gemütliche Bierbauchträger in der Hangover-Blockbusterreihe. "90 Prozent aller Drehbücher werden von Männern über Männer für Männer geschrieben. Wenn unsere Erzählungen männlich dominiert bleiben, wird sich auch unser monotones Männerbild die nächsten Jahrzehnte nicht ändern."

Diversität ist heilsam

Doch hätte Vishal im Jugendalter eine Body-Positivity-Bewegung geholfen, mit der vor allem Nicht-Männer in sozialen Medien seit Jahren dominante Rollenbilder anprangern? "Das Letzte, was Männer brauchen, ist eine weitere Männerbewegung, in deren Folge sie die Krise ihres Geschlechts ausrufen, anstatt ihre Monokulturen hinter sich zu lassen. Solange Männer nicht anfangen, Frauen-, Trans- und Inter-Perspektiven zu konsumieren, werden sie sich ewig an ihren selbstauferlegten Vorlage abarbeiten." Nur mit Diversität im Freundeskreis und beim Medienkonsum würden Männer eine emotional integre Gefühlssprache erlernen.

Vishal ist einer dieser Männer, die sich in einer solchen Gefühlssprache üben möchten. In seinen Songs verarbeitet er seine Kindheitserinnerungen, das Mobbing, den Kampf gegen den eigenen Körper. Dafür, dass er die Geschichten auch in der Psychotherapie aufarbeiten kann, ist er dankbar: "Ich habe aber noch einen harten Weg vor mir, aber ich bin bereit, ihn zu gehen. Bis ich mich wirklich selbst liebe." (Maximilian Eberle, 27.5.2021)