Ina Rumiantseva auf einer Belarus-Solidaritätsveranstaltung in Berlin.

Foto: Privat

STANDARD: Ist Roman Protassewitsch, der in Minsk aus einer abgefangenen Ryanair-Maschine heraus verhaftet wurde, eine Galionsfigur für die Protestbewegung in Belarus?

Rumiantseva: Er hat natürlich durch seine Festnahme jetzt noch eine ganz neue Bedeutung bekommen. Bisher war es aber ein anderer Mann, der beispielhaft für des Leid in Belarus stand: Roman Bondarenko, der am 12. November nach einer brutalen Verprügelung und offenbar auch Folterung durch Sicherheitskräfte verstarb.

STANDARD: Wer war Roman Bondarenko?

Rumiantseva: Er stand für den Durchschnittsaktivisten, der sich zur Demokratiebewegung bekannte und eines Abends in den Hof seines Wohnhauses ging, als er dort Sicherheitskräfte sah. Er wurde bei einem Wortgefecht angegriffen, verschleppt und zu Tode geprügelt. Protassewitsch hingegen ist ein ganz anderer Typ, ein Journalist, der sich sehr engagiert einsetzt. An ihm wird jetzt ein Exempel statuiert, weil das Regime immer noch der Meinung ist, die Bewegung habe Anführer, und wenn man diese beseitigt, sei auch die Bewegung tot. Man hat noch immer nicht begriffen, dass es sich bei der Protestbewegung um eine horizontale Bewegung handelt.

STANDARD: Was heißt das?

Rumiantseva: Während sich die Opposition in den 26 Jahren, seit Alexander Lukaschenko an der Macht ist, bis vergangenen Sommer immer rund um Präsidentenwahlen als kleine, städtische und eher akademische Gruppe dargestellt hat, hat sich das seit Ausbruch der Corona-Pandemie zu verändern begonnen. Da haben viele Menschen erkannt, dass dieser paternalistische Staat, der trotz aller Nachteile immer betont hatte, sich um die Menschen zu kümmern, komplett versagt hat. Weil Lukaschenko das Virus lange geleugnet hat, entstand bei den Menschen der Wille, die Sache selbst in die Hand zu nehmen; der Staat hat ihnen im Kampf gegen Corona eher geschadet als geholfen, dachten viele. Aber auch danach hat das Regime schwere Fehler begangen, nicht zuletzt indem es das Frauentrio unterschätzt hat, das gegen Lukaschenko antrat.

STANDARD: Was geschah danach?

Rumiantseva: Nach der Wahl haben die Menschen begonnen, sich auf unterster Ebene zu organisieren, etwa in den Höfen der Plattenbauten, die Minsk prägen. Während die meisten dort bis dahin recht anonym gelebt hatten, begegnete sich man dort plötzlich auch auf einer menschlichen Ebene. Da sind Strukturen entstanden, die es in der atomisierten Gesellschaft vorher nicht gab, eine Art Zivilgesellschaft. Diese Netzwerke liegen der Protestbewegung zugrunde.

Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko besuchte am Freitag seinen wichtigsten Verbündeten Wladimir Putin in Sotschi.
Foto: EPA/MIKHAEL KLIMENTYEV/SPUTNIK/KREMLIN POOL

STANDARD: Wie wichtig ist Protassewitschs Portal "Nexta" für die Oppositionsbewegung?

Rumiantseva: "Nexta", das er gemeinsam mit Stepan Putilo gegründet hat, ist der größte Telegram-Kanal im russischsprachigen Raum und war mit mehr als zwei Millionen Abonnenten unbestritten der wichtigste Kanal der Protestbewegung im vergangenen Sommer. Der Ausdruck "Schick's an 'Nexta'!" wurde zu einer echten Redewendung, weil man dort ganz einfach und sofort jemanden erreichen konnte, wenn etwas im Land passiert ist. Als dann im August direkt nach der Präsidentschaftswahl das Internet für drei Tage abgestellt wurde, konnte man über klassische Nachrichtenseiten keine Informationen mehr bekommen, die Telegram-Kanäle funktionierten aber weiterhin auf den Handys, so konnten sich die Leute dann trotzdem zu den Märschen organisieren. Es ist aber wichtig zu verstehen, dass "Nexta" kein journalistisches Format im westlichen Sinne ist, sondern eine Art aktivistischer und engagierter Journalismus in einem Land, wo es schon seit Jahren sehr schwer ist, an verifizierte Informationen zu gelangen.

STANDARD: Vor kurzem wurde das Nachrichtenportal Tut.by von den Behörden geschlossen. Wie kommt die belarussische Gemeinde in Deutschland denn nun zu Nachrichten aus der alten Heimat?

Rumiantseva: Einige Telegram-Kanäle sind seit Sommer vergangenen Jahres ganz wichtig geworden, weil dort ohne Zeitverlust berichtet wird, was in der Breite der Bevölkerung wirklich passiert. Zudem ist die Diaspora seit Beginn der Protestbewegung untereinander besser vernetzt, als sie es zuvor war. Bisher konnten viele auch noch pendeln, um sich vor Ort einen Eindruck zu verschaffen. Geflüchtete berichten natürlich schlimme Dinge aus erster Hand. Wegen des eingeschränkten Flugverkehrs haben wir die Sorge, dass genau das schwieriger wird. Ich persönlich traue mich schon seit längerem nicht mehr, einfach Freunde in Belarus anzurufen, weil ich sie nicht in Gefahr bringen möchte.

Auch in Paris wurde für die Freilassung Roman Protassewitschs demonstriert.
Foto: Sadak Souici / Le Pictorium via www.imago-images.de

STANDARD: Wie sehr fürchtet man in Deutschland den langen Arm des Regimes?

Rumiantseva: Nach dem Tod Roman Bondarenkos im November herrschte auch in Deutschland Schock in der Gemeinschaft, auch wenn er nicht der erste Tote der Protestbewegung war. Mittlerweile haben wir schon sechs Tote zu beklagen. Dass es Bondarenko aber so zufällig, so willkürlich getroffen hat, hat uns alle zusätzlich erschreckt. Seither hat sich diese Terrorwelle täglich, eigentlich sogar gefühlt stündlich, weiter aufgebaut. Erst zwei Tage vor der Flugzeugentführung und dem Fall Protassewitsch ist der politische Gefangene Witold Aschurok gestorben, offiziell an Herzversagen, sein Kopf war aber stark bandagiert, wie auf Fotos zu sehen ist. Es ist von Folter auszugehen. Was wir nun erleben, verleiht dem Ganzen nur eine neue, internationale Dimension.

Der Tod Roman Bondarenkos bewegt seit November die Menschen in Belarus.
Foto: BelaPAN

STANDARD: Wo können sich die Belarussinnen und Belarussen, die mit dem Regime unzufrieden sind, denn jetzt noch informieren?

Rumiantseva: Es wird immer schwieriger. Für die Menschen vor Ort ist es zu einer Gefahr geworden, sich auf dem Handy zu informieren. Bei Festnahmen wird immer auch das Handy kontrolliert, und wer dann die falschen Telegram-Kanäle abonniert hat, kann für lange Zeit ins Gefängnis gehen. Trotz der ständigen Gefahr hat aber die Flugzeugentführung etwa wieder dazu geführt, dass die Menschen wieder hinausgehen, etwa zu den neuerlichen Märschen der Protestbewegung in Minsk.

STANDARD: Gibt es in der Kulturszene denn noch Widerstand gegen das Regime?

Rumiantseva: Neben dem Journalismus ist der Kulturbereich am stärksten unterdrückt worden. Es muss dabei gar nicht um Widerstand gehen, nicht einmal für das freie künstlerische Schaffen gibt es mehr Raum in Belarus. Die Leute mussten untertauchen, viele sind im Exil, wo sie jetzt neu ihre Netzwerke aufbauen. An diesem Punkt sind wir als Europäer gefordert, diese Leute aufzufangen, die nicht nur persönlich traumatisiert sind, sondern auch viel zu erzählen und ein großes kreatives Potenzial haben.

STANDARD: Bringt es Protassewitsch tatsächlich etwas, dass der Westen nun wieder genauer nach Belarus blickt?

Rumiantseva: Es gilt nach wie vor die Regel, dass solche Regimes wie jenes in Belarus Öffentlichkeit meiden wie der Teufel das Weihwasser. Der beste Schutz und gleichzeitig das Mindeste, was wir tun können, ist hinzuschauen. Roman Protassewitsch ist aber nur einer von vielen, die unseren Schutz brauchen. Offiziell gibt es in Belarus aktuell 423 politische Gefangene, das sind pro Kopf etwa 25-mal so viele wie in Russland. Die Dunkelziffer liegt aber wohl noch weit höher, weil sich viele Gefangene gar nicht mehr trauen, ihren Status als politische Gefangene überprüfen zu lassen.

Swetlana Tichanowskaja, die Gegenkandidatin Lukaschenkos bei der gefälschten Wahl im August 2020, reist aktuell durch die Hauptstädte Europas, um Druck auf das Minsker Regime auszuüben. Hier: Amsterdam.
Foto: EPA/JEROEN JUMELET

STANDARD: Was braucht es vonseiten Europas?

Rumiantseva: Wir brauchen jetzt sehr klare Antworten in einer Sprache, die das Regime auch versteht. Dazu gehört die Ausweitung der Sanktionsliste, aber auch die Frage, ob man überhaupt noch mit Staatsunternehmen zusammenarbeitet, muss gestellt werden. Diese Unternehmen finanzieren ein Regime, das sowieso früher oder später zusammenbrechen wird. Jeden Tag, den es länger an der Macht bleibt, riskieren wir Menschenleben. Daneben brauchen wir aber auch eine viel stärkere Unterstützung für die Geflüchteten, gerade die Kulturschaffenden. In Polen und Litauen macht man das bereits vorbildlich. So wie es für die Verfolgten keinen Weg zurück mehr in ein Belarus vor dem Sommer 2020 gibt, gibt es auch für Europa kein Belarus mehr, so wie es früher war. (Florian Niederndorfer, 30.5.2021)