"Tussy" rockt: Wenn die Misere überhandnimmt, schüttelt sich Eleanor Marx zur Musik der sehr heutigen Punkband Downtown Boys.

Foto: Scarpa/Viennale

Ihren eigenen Vater wähnt Eleanor (Romola Garai) post mortem in der Hölle angekommen: Ohne falsche Scheu ergreift Karl Marx’ jüngste von insgesamt drei Töchtern vor Papas Londoner Grabmal das Wort. Man schreibt die mittleren 1880er-Jahre: eine Phase der Moderne, als Europa wie gefangen in den Kostümen des Historismus steckte und zugleich heftig an den Ketten der Überlieferung rüttelte.

Die Wohlhabenden? Erlitten, so wie Eleanor Marx, die Drangsal einer rigiden Moral und schnappten unüberhörbar nach Luft. Dennoch zitterte unter den Füßen der industriell bestellte Boden. In Susanna Nicchiarellis Bio-Picture Miss Marx irren die Fackelträger des Fortschritts wie aufwendig kostümierte Gespenster durch die Kulissen der Belle Époque.

Unsichtbare Kräfte erschüttern die holzvertäfelten Herrenzimmer. Die jagende Hast, mit der sich die Produktivkräfte entfalten, drängen allerorts auf Umwälzung und Expansion. Eleanors alias "Tussys" erster Auftritt als strahlende Demagogin gibt den Grundton dieses merkwürdig verhaltenen Kostümfilms an. Sie (1855–1898), eine begnadete Intellektuelle, liest – auf den Schriften ihres Vaters aufbauend – der Welt der Ausbeuter voll Eifer die Leviten. Proletarier aller Länder sieht man auf zeitgenössischen Schwarz-Weiß-Fotos vereinigt.

Zugleich leidet Eleanor Marx unablässig unter Geldsorgen. Papas dickster Kumpel, Friedrich Engels, muss wiederholt aushelfen. Als Funktionärin der Sozialistischen Internationale leistet sich Tussy obendrein den Genuss einer "unstandesgemäßen Liaison": Ihr zumeist verschmitzt lächelnder Gefährte Edward Aveling (Patrick Kennedy) ist ein Tausendsassa, ein amüsanter Gelegenheitsschreiber – und, wenn er nicht gerade kettenrauchend seine Lungen ruiniert, ein notorischer Schwerenöter mit bigamistischen Energien.

Passion mit Punk

Die Pointe dieses geduldig nachempfundenen Frauenschicksals scheint naheliegend, die Umstände der finalen Tragödie – Marxens Jüngste nimmt Gift – sind melodramatisch und zudem historisch ausführlich belegt. Tussy bleibt als waschechte Progressive verlässlich unter ihrem Niveau. Wenn sie in ihrer Qual verstummt, gibt ihr kein Gott zu sagen, was sie leidet.

Nicchiarelli unterlegt die Passion ihrer Heldin mit Punkmusik: von den garantiert kommunistischen Downtown Boys. Unwillkürlich denkt man an eine andere Filmbiografie der Regisseurin, Nico, 1988: Auch damals schien die Heldin gefangen in einem Käfig der Lethargie, traf eine fortschrittliche Praxis – die des sonoren Kunstgesangs – auf eine gleichgültige Welt.

Romola Garais Verlorenheit scheint mit Händen greifbar. Die Adressaten ihrer Hoffnungen und Sorgen: Arbeiter, die unter menschenunwürdigen Bedingungen schuften, Frauen, die neben ihrer Erwerbsarbeit permanent Gebärdruck haben, sieht man lediglich am Rand auftauchen. Eine Ansammlung streikender Proletarier erscheint wie hinter einem Schleier.

Die alte Welt geht zugrunde. Die neue macht noch keine Anstalten, sich endgültig zu materialisieren. Dazwischen aber irrt, von allen guten Geistern verlassen und eifrig aus Papas Das Kapital exzerpierend, Eleanor Marx herum.

Auf halbem Wege

Sie ähnelt einer nach England transferierten Emma Bovary. Einer Frau, für die es (noch) kaum vernünftige Normen gibt, die irgendwo, auf halbem Wege zwischen Mittelalter und Kommunismus, feststeckt. Leider hat Susanna Nicchiarelli für Tussys Lebenslauf kein Skript gefunden: keinen Austragungsort für die vielen Widersprüche, keinen roten Faden auch, der dieses gut dokumentierte Leben zum Lektürestoff erhebt.

Und so zeigen die fesselndsten Szenen Eleanor als kleines Mädchen: sich schelmisch im Abglanz des allmächtigen, gönnerhaften Vaters sonnend. Das Selbstbild dieser Hochbegabten ist dasjenige einer Kinderskizze. Es zeigt eine Prinzessin mit gebändigtem Haar. Der eigentliche, emanzipatorische Film über Eleanor Marx wäre erst noch zu drehen. (Ronald Pohl, 29.5.2021)