Durch diese hohle Gasse müssen Ruhestörer kommen: Florian Köhler streift als Kafka-Held durchs Innere des Grazer Schauspiels. Die Zuschauer sind daheim – und hautnah dabei.

Foto: Johanna Lamprecht

Franz Kafkas letzter Prosaheld ist ein unscheinbares Tier – ein Ich-Erzähler mit Hang zu unterirdischer Häuslichkeit. Als dachsähnliches Wesen wühlt der Bewohner von Der Bau (1924) ein Labyrinth von Gängen in die Erde. Vorräte sammelt dieser Einsiedler auf einem "Burgplatz". Potenzielle Angreifer? Sollen konsequent in die Irre geführt werden.

Irgendwann meint der tierische Wohnungsinhaber, im Tunnelgewirr ein schwaches Zischen zu hören. Die fortgeschrittene Kafkalogie hat in der Beschreibung der akustischen Wahrnehmungsstörung einen Hinweis auf des Dichters Tuberkulose-Erkrankung zu erkennen geglaubt. Einen beherzten Schritt zur Erhellung der beengten kafkaesken Wohnverhältnisse hat jetzt das Grazer Schauspielhaus gesetzt.

Jeder Theaterbesucher darf in den Dachsbau hineinschlüpfen. Garantiert jedem geht – bei absoluter Wahrung der Geheimnisse von Ort, Sinn und Richtung – ein Licht auf. Besser noch: Besucher der kafkaesken Bunkeranlage bleiben zu Hause und können sogar die geliebten Pantoffel anbehalten. Hereinspaziert: Die Vorstellung von Der Bau, rund 40 Minuten lang und auf ein beeindruckendes Solo des Schauspielers Florian Köhler zusammengeschnurrt, ist absolut virtuell.

Hinein ins "Gedärm"

Interessenten erhalten ein Headset, das der Postfuchs, wohlverpackt und mit allerlei Gadgets versehen, über den Gartenzaun wirft. Wer also die kafkaeske Formel "Dabeisein ist alles" beherzigt, schlüpft in das Gedärm des Grazer Schauspielhauses. Und bleibt zur gleichen Zeit, dank "3D-Audio-Mix" und eines futuristischen Helmaufbaus, dennoch bei sich daheim.

Köhler, ein kräftiger blonder Mann, mimt beides: Als Hausherr von Kafkas Bau eilt er wie von der Tarantel gestochen, mitunter auch nur gemächlich durch das verwunschene Hades-Reich der Unterbühne und des Orchestergrabens.

Kafkas tastende Sätze kommen ihm mit großem Ernst über die Lippen. Zugleich wirbt hier ein Schauspieler um seine Wahrnehmung: um die schier grenzenlose Anerkennung als listenreicher Baumeister, der, um seiner Sicherheit willen, nicht gesehen werden will. Der jedoch die Aufmerksamkeit, die ihm durch Gaffer zuteilwird, benötigt wie einen Bissen Brot. Wobei wiederum er, als Held einer lediglich "virtuellen" Zuspielung, im Moment der Aufnahme mutterseelenallein bleibt. Wer möchte, darf zu der verwickelten Versuchsanordnung auch "Lockdown" sagen.

Köhler, an den Unterboden geschmiegt oder als Galerienbesucher emporgereckt in schwindelerregende Höhe, gibt sich als Verwandter der Sonderlinge von Beckett zu erkennen. Ein Triumphator der Vergeblichkeit, der Spielzeugtiere hinter sich herzieht. Oder der eigenen Kläglichkeit mit zwei Zahnbürsten gleichzeitig zu Leibe rückt. In der Regie der russischen Kafka-Expertin Elena Bakirova bildet die Welt des Theaters das Innere eines Molochs.

Beredte Lüftung

Man meint, es seien Kabelleitungen und Lüftungsritzen, die sich mit uns zischend unterhalten. Der virtuelle Besucher kann sich jederzeit 360 Grad im Kreis drehen, an die Decke blinzeln, viele Meter unter sich blicken (Bildgestaltung/Schnitt: Markus Zizenbacher). Es erfasst einen der heillose Schwindel der Erkenntnis: Wir sitzen, so wie Kafkas umsichtiger Dachs, rettungslos in der Falle. Wir erleben alles virtuell und finden aus unseren verwickelten Weltverhältnissen nicht hinaus.

Donnernder Applaus allen Beteiligten, u. a. dem unterstützenden Institut für Elektronische Musik und Akustik der Kunstuniversität Graz. Die Schachtel mit dem Set geht übrigens an die Leihgeber retour. (Ronald Pohl, 28.5.2021)