Ungarns Premier Orbán und Österreichs Kanzler Kurz bei einem EU-Gipfel: viele Ähnlichkeiten, einige Unterschiede.

Foto: APA / AFP / Ludovic Marin

Der amerikanische Politologe Timothy Snyder konstatiert in seinem Bestseller Über Tyrannei nüchtern: "Es ist ein Fehler zu glauben, dass Herrscher, die durch Institutionen an die Macht kamen, ebendiese Institutionen nicht verändern und zerstören könnten – selbst wenn es genau das ist, was sie angekündigt haben."

Viktor Orbán hat genau das gemacht. Er kam durch demokratische Institutionen – Wahlen, Meinungsfreiheit – an die Macht, und er hat sie – wie angekündigt – konsequent zerstört. In der politischen Debatte in Österreich und auch im Ausland wird Sebastian Kurz immer öfter als "Orbán light" oder "Orbán soft" bezeichnet. Er wolle Österreich, wie Ungarn, in Richtung persönliches, autoritäres Regime umbauen. Absurde politische Paranoia? Oder gibt es doch Parallelen? Hier ein Versuch, zu einer Abwägung zu kommen:

Orbán kündigt seine Ziele offen an. Kurz bleibt vage.

In seiner berühmten Rede 2014 im rumänischen (!) Siebenbürgen (einst Teil Ungarns) verkündete Orbán (bereits Ungarns Ministerpräsident), der "neue Staat, den wir in Ungarn aufbauen, ist ein illiberaler Staat, kein liberaler Staat". Von Sebastian Kurz ist keine derartige eindeutige Äußerung bekannt, ins Kanzleramt kam er mit vagen Slogans wie "Ein neuer Stil" oder "Veränderung".

Angekündigt wurde nicht ein Umbau des Staates, sondern ein Ende des fruchtlosen Hickhacks der rot-schwarzen Koalition. Im Strategiepapier "Projekt Ballhausplatz" der Kurz-Truppe ist allerdings viel von einem zu überwindenden "System" die Rede. Das kann man als Absage an "rot-schwarzen Stillstand" oder als Abkehr von der Konsensdemokratie deuten.

Mit Orbán und Kurz haben kleine, verschworene Gemeinschaften die Kontrolle über einen ganzen Staat übernommen.

Orbán hat sich mit seiner Gruppe seine Partei (Fidesz) komplett unterworfen, Kurz ebenso. Damit eroberten sie die Regierungsmacht. Beide haben (teilweise unqualifizierte) Jugendfreunde in wichtige Staatspositionen gebracht. Sie sind "Familie". Kurz wie Orbán stellen den traditionellen Staatsapparat kalt, das Entscheidungszentrum ist ihr kleiner Kreis.

Orbán hat die Postenbesetzung viel weiter getrieben. Beide folgen einer Maxime des erfolgreichen Populisten, die der Experte Walter Ötsch (Populismus für Anfänger) so formuliert hat: "Schaffen Sie eine sektenähnliche Organisation. Umgeben Sie sich mit einer kleinen Schar absolut Getreuer. Fordern Sie Unterwerfung." Im Strategiepapier "Projekt Ballhausplatz" ist wörtlich von "Jüngern" die Rede, die ihn "als Person supporten".

Orbán und Kurz führten ihre "christkonservativen" Parteien national populistisch nach rechts, nahmen den Rechts-außen-Parteien Themen und Stimmen weg und übernahmen deren Politik.

Sowohl in Ungarn wie in Österreich hatten rechtsextreme, ausländerfeindliche Parteien wie Jobbik und FPÖ zunächst beachtliche Erfolge, mit der Zeit wurden deren Themen (Migration) jedoch von der "moderateren" Orbán-Partei Fidesz und der unter Kurz türkis gefärbten ÖVP übernommen.

Sowohl Orbán wie Kurz sind Nationalpopulisten, Orbán ist allerdings viel ideologischer und rhetorisch radikaler.

Orbán will ein "christliches" Europa im Sinne einer Ablehnung der "Dekadenz" des westlichen Liberalismus und selbstverständlich des Islam. Kurz hat mit Religion nicht allzu viel im Sinn, scheut sich auch nicht, die katholische Kirche finanziell zu bedrohen, wenn sie seine Asylpolitik kritisiert, nimmt aber die Unterstützung katholisch-konservativer Bewegungen gern an.

Über Muslime redet er fast nur im Kontext von "anpassen" und "politischem Islam". Orbán vertritt einen völkischen ungarischen Nationalismus. In den Ansprachen von Kurz kommen nur die "Österreicherinnen und Österreicher" vor, während andere türkise Würdenträger auch von "denen, die in Österreich leben" reden.

Orbán hat die demokratischen Kontrollinstitutionen in seine Gewalt gebracht, Kurz schießt "nur" Störfeuer gegen sie.

Justiz, Verfassungsgericht, kritische Medien, die Universitäten, die Bürokratie, die Künstler und Intellektuellen sind in Ungarn so gut wie gleichgeschaltet oder ausgeschaltet. Die Verfassung wurde auf "völkisch-klerikal" umgeschrieben. Das geänderte Wahlrecht und die sogenannten "Kardinalgesetze" sichern die Macht.

Sebastian Kurz hat kein Wahlrecht geändert, der Verfassungsgerichtshof konnte nicht zum Büttel der Regierung gemacht werden, die Justiz nicht "gesäubert", das Parlament nicht entmachtet. Aber es gab besonders in der letzten Zeit unzählige Versuche, die Kontrollinstitutionen zu beschneiden, einzuschüchtern, auf administrativem Weg zu blockieren, ihre Integrität infrage zu stellen und sie damit zu delegitimieren.

Der Verfassungsgerichtshof etwa soll nicht mehr mit einer Stimme bei Urteilen sprechen – womit die Richter mit unpopulären Rechtsansichten am Pranger wären. Razzien der Ermittlungsbehörden sollten bei Ämtern und Amtsträgern praktisch nicht mehr möglich sein – was das Ende jeder ernsthaften Korruptionsbekämpfung wäre.

Den Behauptungen von Kurz, in der Korruptionsstaatsanwaltschaft WKStA gebe es "rote Netzwerke", die seine Freunde (und Spender) verfolgten, folgte der Versuch, die Behörde zu zerschlagen. Unablässige Angriffe auf die WKStA dauern bis heute an. Korruptionsstaatsanwälte klagen über Behinderung durch ÖVP-nahe Justizfunktionäre.

Die Präsidentin der Richtervereinigung, Sabine Matejka, im STANDARD: "Österreich ist zwar nicht in einer vergleichbaren Situation, aber auch in Ungarn und Polen hat es mit kleineren Eingriffen in den Rechtsstaat angefangen, die sich dann summiert haben, und dann sind die Hemmungen gefallen."

Für das Parlament, wie für die Gewaltenteilung überhaupt, hat Kurz nie viel Verständnis gehabt. Seine Wertigkeiten zeigte der Slogan nach seiner Abwahl durch einen Misstrauensantrag 2019: "Das Parlament hat abgestimmt. Das Volk wird entscheiden."

Im parlamentarischen U-Ausschuss verhielten sich Kurz und Co unkooperativ und sehr gedächtnisschwach. Seit die WKStA Ermittlungen gegen Kurz wegen Falschaussage vor dem Ibiza-Untersuchungsausschuss verlautbart hat, steht der Ausschuss unter türkisem Trommelfeuer. Die Wahrheitspflicht soll fallen. Er soll vor allem nicht in den Herbst verlängert werden. Die Opposition wird kriminalisiert ("Wort im Mund umgedreht") und lächerlich gemacht ("Löwingerbühne").

Aber wirklich orbánesk ist, dass Finanzminister Gernot Blümel vom Verfassungsgerichtshof per Exekutionsauftrag an den Bundespräsidenten gezwungen werden musste, (absichtlich zurückgehaltene) Akten für den Ausschuss herauszurücken.

Unter Orbán sind seine Freunde immens reich geworden, Kurz hatte Verständnis für die Wünsche von Großspendern.

Als Kurz die ÖVP übernommen hatte, suchte er gezielt Kontakt zu Großspendern, die ihm ein gewaltiges Überziehungsbudget für den Kampf um den Kanzlerposten ermöglichten. Ob es da Korruption gegeben hat, ist Untersuchungsgegenstand des Ibiza-Ausschusses. Dass der Industrie Wünsche erfüllt wurden, die man so oder so betrachten kann – Möglichkeit des Zwölfstundentags, Umbau der Sozialversicherung –, ist evident.

Für Orbán wie für Kurz ist Kontrolle über Medien essenziell. In Ungarn gibt es fast nur noch regierungsfromme Medien, Kurz arbeitet mit Zuckerbrot und Peitsche.

Im Unterschied zu Ungarn herrscht in Österreich trotz mancher Tendenzen Meinungsfreiheit. Der ungarische Autokrat hat seine Oligarchenfreunde praktisch die gesamte Medienlandschaft aufkaufen und teilweise einstellen lassen.

Der Kurz verbundene Immobilientycoon René Benko hat sich bei Krone und Kurier eingekauft. Kurz hält sich die populistischen Massenzeitungen durch reiche Inseratengaben. Er stützt sich auf eine beispiellose Zahl von Kommunikationsmitarbeitern und setzt massiv auf persönliche Beeinflussung. Orbán ist klar repressiv, Kurz versucht es mit Inszenierung, kann aber auch unangenehm werden.

Orbán ist über die demokratische Grenze eindeutig hinausgegangen. Kurz steht manchmal an der Grenze.

Bei Kurz muss man sich fragen: Ist das noch "normales" Machtstreben? Oder ist das da und dort schon ein systemischer Angriff auf die Säulen der Demokratie? Oder ist er mit einer Art populistischer Dominanz zufrieden?

Nach dem Politologen Jan-Werner Müller (Was ist Populismus?) sind Populisten der Tendenz nach immer antidemokratisch, weil antipluralistisch. Solche Tendenzen waren und sind bei Kurz erkennbar.

Die nächste Zeit wird zeigen, ob er angesichts seiner juristischen Schwierigkeiten und sinkender Beliebtheitswerte eher die Mäßigung wählt oder einen autoritäreren Kurs forciert. (Hans Rauscher, 29.5.2021)