Bild nicht mehr verfügbar.

Die Stunden zuvor in Minsk zur Landung gezwungene Ryanair-Maschine an ihrem eigentlichen Zielort Vilnius – allerdings ohne Roman Protassewitsch und Sofia Sapega.

Foto: Reuters / Andrius Sytas

Die ersten Zweifel kamen Roman Protassewitsch schon am Flughafen in Athen. Zwei Wochen hatte der Gründer und Ex-Chefredakteur des belarussischen Oppositionsmediums "Nexta" zuvor in Griechenland verbracht. Erst um die Teilnahme der ehemaligen Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja am Delphi Economic Forum zu beleuchten. Dann hing er noch eine Woche Urlaub mit seiner Freundin Sofia Sapega dran, ehe er nach Vilnius zurückkehren wollte, wo das Paar seit Ende 2020 lebt.

Doch kurz vor dem Rückflug bemerkte der 26-Jährige seine Beschatter. "LOL. Mir scheint, der KGB hat mich im Flughafen beschattet", schrieb er am Morgen in seinen Messenger. Ein Mann habe sogar versucht, seine Dokumente zu fotografieren. Er sei zwar nicht zu 100 Prozent sicher. "In jedem Fall ein verdächtiger Mist", fügte er aber hinzu, zumal ihm auffiel, dass der Beschatter, der ihn zuvor mit einer belanglosen Frage auf Russisch angesprochen hatte, unmittelbar vor der Dokumentenkontrolle am Gate kehrtmachte und verschwand.

Spätestens in dem Moment hätte wohl auch Protassewitsch kehrtmachen müssen. Aber im Urlaub, dem ersten seit drei Jahren, hatte der Gegner von Belarus’ (Weißrusslands) Präsident Alexander Lukaschenko seine Vorsicht verloren. Denn offenbar wollten die Geheimdienstler nur sichergehen, dass Protassewitsch wirklich in die Ryanair-Maschine steigt.

Schon zuvor hatte der KGB den Oppositionellen intensiv ausgespäht. Das Paar half bei der Überwachung unfreiwillig mit, stellte Bilder ins Internet; er von der Konferenz, sie Impressionen aus Griechenland, die dem Geheimdienst verrieten, wo er war. Die Rückflugdaten herauszufinden war dann für den KGB im Zeitalter von Online-Check-in kein Problem. Hätte er die Idee eine Woche früher gehabt, hätte er wohl Tichanowskaja selbst geschnappt, vermuten Beobachter.

Rechtzeitiger Bombenalarm

Minsk beharrt darauf, dass Protassewitschs Festnahme Zufall war. Eine Bombendrohung, so die offizielle Version, habe Belarus zum Eingreifen gezwungen. Lukaschenko behauptete in einer Fragestunde vor dem Parlament, dass die Bombendrohung gleichzeitig bei den Flughäfen in Athen, Vilnius und Minsk eingegangen sei, doch nur Minsk habe operativ reagiert, da die Ryanair-Maschine im belarussischen Luftraum unterwegs gewesen sei. Der Pilot habe letztlich entschieden, in Minsk zu landen, somit sei alles rechtens, so der Autokrat.

Doch die Chronologie der Ereignisse macht deutlich, dass diese Aussage nicht stimmen kann. Denn der Funkverkehr zwischen der belarussischen Flugkontrolle und dem Ryanair-Piloten zum Thema Bombendrohung setzt laut dem veröffentlichten Stenogramm um 9.30 Uhr UTC (koordinierte Weltzeit – entspricht 12.30 Uhr Ortszeit in Minsk) ein. "Wir wurden von den Sicherheitsdiensten informiert, dass Sie eine Bombe an Bord haben und sie über Vilnius gezündet werden kann", sagt der Dispatcher dem Piloten.

Eine Viertelstunde lang versucht dieser, nähere Details zu erfahren, ehe er den Notruf sendet und die Entscheidung zur Kursänderung und Landung in Minsk trifft. In der Zeit ist bereits ein Kampfjet vom Typ MiG-29 an seiner Seite.

Der per E-Mail versandte Drohbrief, auf den sich Lukaschenko bei seiner Entscheidung zur Umleitung des Passagierflugzeugs beruft, ging in Minsk allerdings erst um 12.57 Uhr Ortszeit ein. Einen entsprechenden Bericht bestätigte inzwischen der in der Schweiz ansässige Freemail-Anbieter Proton Mail, über dessen Service die Drohung abgeschickt wurde. Zwar sei der Inhalt verschlüsselter E-Mails nicht einsehbar, wohl aber die Uhrzeit. "Wir können bestätigen, dass die fragliche Nachricht gesendet wurde, nachdem das Flugzeug umgeleitet worden war", so Proton Mail.

Protassewitschs Ahnung

Da auch die Hamas die ihr zugeschriebene Bombendrohung dementierte und der Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas am Pfingstsonntag bereits in Kraft getreten war, ist die Argumentation Lukaschenkos über die angebliche Bedrohungslage nicht mehr haltbar. Protassewitsch verstand jedenfalls sofort, dass er das eigentliche Ziel der Aktion ist, als das Flugzeug seinen Kurs änderte. Augenzeugenberichten nach zeigte er große Angst, zitterte und fasste sich an den Kopf. Nach der Landung sagte er schon gefasster zu seinen Nachbarn: "Hier wartet die Todesstrafe auf mich."

Die Befürchtungen des Bloggers sind nicht unbegründet. Der Kanal "Nexta", den Protassewitsch bis zum Herbst 2020 leitete, war eines der wichtigsten Instrumente der Opposition bei der Koordinierung ihrer Proteste im Sommer 2020. Sowohl "Nexta" als auch der anschließend von ihm geführte Kanal "@belamova" werden von der belarussischen Führung als extremistisch eingestuft.

Allein die bisherigen Vorwürfe reichen aus, um Protassewitsch eine 15-jährige Haftstrafe einzubringen. Allerdings nannte Lukaschenko Protassewitsch, der seit Anfang 2020 in Polen Asyl genießt, bereits einen "über die Grenzen hinaus bekannten Terroristen". Terrorismus kann in Belarus mit der Todesstrafe geahndet werden.

Sanktionen der EU

Freilich läuft Lukaschenko Gefahr, nach der Flugzeugumleitung selbst als Terrorist gebrandmarkt zu werden. Die EU hat bereits wegen der als "Piraterie" eingestuften Geheimdienstaktion erste Sanktionen gegen das Land verhängt, unter anderem die Sperrung des belarussischen Luftraums.

Rückhalt findet der 66-Jährige einzig im Kreml, der sich im Konflikt bisher auf seine Seite gestellt hat und zeitweise sogar der AUA und Air France Flüge unter Umgehung Belarus’ nach Russland verweigerte. Am Freitag setzte sich Lukaschenko selbst ins Flugzeug nach Sotschi, um dort mit Kremlchef Wladimir Putin über sein weiteres Schicksal zu verhandeln. Hatte er vor einem Jahr noch eine Vereinnahmung Belarus’ seitens der Russen beklagt, sprach er sich vor dem Abflug öffentlich für eine stärkere Integration beider Länder aus. (André Ballin, 28.5.2021)